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: HELMUT HÖGE über den Kaktus

Widerborstigkeit als Lifestyle

Rund um Berlin gibt es inzwischen nicht nur Straußenmäster, Lamazüchter, Designerkarpfen-Großhändler und spirituell wirtschaftende Landkommunen, sondern auch immer mehr Kakteenfarmen.

Der ehemalige Eberswalder Wurstmacher Kurt Schmehl erklärt denn auch seinen Ausstieg aus der Pilzproduktion und seinen Einstieg in die Kakteenzucht mit der steigenden Nachfrage: „Du glaubst gar nicht, wie viele Leute auf diese ollen Kaktusse abfahren.“ Er will damit demnächst auch ins Internet, „aber erst muss das Arbeitsamt noch meinen Laden finanziell absichern – so eine Webpage, die kostet nämlich“. Und dann muss sie auch auffällig sein, denn es gibt unter dem Stichwort „Kaktus“ schon jetzt 154.000 Eintragungen im Internet.

Wenn man der amerikanischen Kolumnistin der Netzeitung, Anjana Shrivastava, glauben darf, dann kommt auch diese Leidenschaft für „unsere stacheligen Freunde“, wie die SFB-Abendschau sie nennt, aus den USA. Dort befassen sich schon ganze Bürgerinitiativen mit diesem Phänomen, unter anderem kämpfen sie angesichts der sich immer weiter in die Wüsten hineinschiebenden Neubausiedlungen für Kakteen-Reservate.

In Deutschland ist der Kaktus bis jetzt meist noch ein Gegenstand von Stammtischen – immerhin gibt es hier bereits über tausend „Vereine für Kakteenfreunde“.

Und auf der Grünen Woche füllt der Kaktus auch schon ganze Hallen, zudem werden immer mehr „Zeitschriften für Kakteen und andere Sukkulenten“ gegründet (die „größten Kakteenseiten“ finden sich unter www.der-kaktus.de). In Amerika gibt es darüber hinaus „Kakteenschulen, Kakteenwilderer, Kakteensherrifs und Kakteendetektive“.

Laut Shrivastava, die nebenbei bemerkt während ihrer Schülerzeit immer für eine israelische Kaktee (Tsabra) gehalten wurde, ist der kontemporäre Kaktustrend den seit dem weltweiten Abbau von Sozialleistungen immer härter werdenden Arbeits- und Lebensbedingungen zu verdanken. Im Kaktus – auf dem Fensterbrett oder im Garten – spiegelt sich die Verwüstung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Natur en miniature wider – zugleich aber auch die Fähigkeit, damit zu leben – und sogar erfolgreich dagegen Widerstand zu leisten. Shrivastava schreibt: Dem Kaktus „ist jeder Überfluss zuwider, er ist gewissermaßen auf Härte angewiesen“.

In den Vereinigten Staaten hub die Kaktusnachfrage im Südwesten an, nachdem die Boomstädte wie Phoenix Arizona ihren Bürgern nahe gelegt hatten, den Wasserverbrauch zu senken, indem sie ihre Gärten mit Wüstenpflanzen gestalten. Schon bald schleppten die Hobbygärtner massenhaft zum Beispiel die bis zu sieben Meter groß werdenden Saguaros aus der Wüste in ihre Vorgärten.

Um so groß zu werden, brauchen diese Kakteen jedoch 100 Jahre, dann zahlen ihre Liebhaber aber auch bis zu 5.000 Dollar dafür. Jedes Jahr werden in Arizona illegal Kakteen im Wert von zwei Millionen Dollar ausgegraben. In der Chihuahua-Wüste von Westtexas haben die Park-Ranger angefangen, Computerchips in die Kakteen zu implantieren, um sie vor Kakteenräubern zu schützen.

Längst hat sich die Kakteenleidenschaft bis an die Ostgrenze ausgebreitet: „Jeder Idiot kann Kakteen im sonnigen Südwesten kultivieren“, meint der Internet-Kakteenhändler Art Hall aus Wisconsin. Herr Hall hält Vorträge über Kakteen in Schulen und Bibliotheken, um die Nachfrage anzukurbeln. Eine seiner Kundinnen sagt über die von ihr geliebten Kakteen: „Sie sind echte Überlebende!“ In anderen Worten: Wir müssen wie die Kaktusse werden – wenn wir nicht untergehen wollen.

Neben seiner Vorbildfunktion eignet sich der Kaktus aber auch selbst als Hieb-, Wurf- und Stichwaffe. Angeblich soll es besonders in Britz, Buckow und Rudow häufig vorkommen, dass jemand damit erfolgreich einen Einbrecher, Trickdieb oder Gerichtsvollzieher abwehrt. Propagandistisch deuten darauf aber auch schon die vielen linken Initiativen, Zeitungen, Computerviren und Jugendtreffs hin, die sich „Kaktus“, „Kaktus-Club“, „Kaktus-Gang“ etc. nennen.