Eine Tarnkappe für alle Fälle

„Wenn Homosexualität etwas Normales wäre, dann müsste auch Diebstahl normal sein“, sagt der Kirchensprecher

AUS BUKAREST ANNETT MÜLLER

Der Morgen ist noch taumelig zu dieser Stunde. Ramon Stanescu nimmt den Bus, einen der ersten des Tages. Es riecht nach Schweiß, nach verbrauchter Nacht. Es riecht nach frisch Geduschten, die in den Tag fahren. An den Haltestellen werden sie auseinander laufen. Ramon hat sich in den letzten Stunden an einem Orangensaft festgehalten. Während die anderen tanzten, hat er geredet in dieser Nacht, manchmal auch von seinem Liebsten. Es klang zärtlich. Vielleicht hätte er in diesem Moment seinen Arm um ihn gelegt, so wie die Pärchen an den Tischen. Liebkosende Männer. Das ist nicht weiter aufgefallen, im Queen’s Club, dem Schwulen-und-Lesben-Club von Bukarest.

Iuliu Baras ist eine vergessene Nebenstraße im Stadtzentrum der Hauptstadt, in die sich nachts niemand verirren mag. In Nummer 12, im Keller eines gewöhnlichen Wohnhauses, hat am Abend der Queen’s Club geöffnet. Als Besitzerin Madalina die Bar vor zwei Jahren bei der Polizei anmeldete, haben die Beamten gefragt, welche „Gestalten“ denn da kämen. Sie erwiderte: „Menschen, die nicht anders aussehen als Sie.“

Der Club ist ein fensterloser Ort mit einem Türsteher, der Fragen stellt. Ein Ort, den man nur findet, wenn man weiß, wo man ihn suchen muss. Ein Ort, der „niemanden provoziert“, sagt die Betreiberin. Es ist bislang der einzige Schwulen-und-Lesben-Club der Stadt. „Eine Insel“, sagt Ramon Stanescu. Rund 100 Quadratmeter ist sie groß, verraucht, mit zwei Diskokugeln an der Decke, einer Bar und Sitzecken. Eine Insel, auf der Ramon so sein kann, wie er will, so wie er ist.

Die Mutter ahnt etwas. Sie hat aufgehört, ihren 22-jährigen Sohn nach Mädchen zu fragen. Wie gerne würde er ihr sagen, dass er verliebt ist. Er denkt, es würde sie nur unglücklich machen. Die Nachbarn von Ramon wissen etwas. Sie tuscheln jetzt mit den anderen. Hätten sie ihm doch wenigstens gesagt, dass Schwulsein nicht in ihre Lebenswelt passt und sie es als anormal empfinden. Sie haben geschwiegen.

Seit Ende Januar 2002 steht Homosexualität nicht mehr unter Strafe. Der Artikel 200 wurde abgeschafft, und seit zwei Jahren können sich Homosexuelle nun auch in Rumänien frei zu ihrem Coming-out bekennen – laut Gesetz. Fast zehn Jahre lang war um die Streichung des Strafartikels gestritten worden. Die Reden der Parlamentssitzungen lesen sich heute, als sei es um das Überleben der Nation gegangen. Und so fände es vermutlich noch immer ein Großteil der Menschen im Bus, in dem Ramon Stanescu nach Hause fährt, skandalös, dass er mit einem Mann zusammen ist.

Nur bestrafen können sie ihn dafür nicht mehr. Vor sechs Jahren ist dieses Gesetz vor Gericht letztmals zur Anwendung gekommen. Eine Frau, angezeigt von den Verwandten, erhielt eine Bewährungsstrafe, weil sie sich aufgeführt habe „wie eine Lesbe“. Dafür hätten die Richter sie mit Haft zwischen einem und fünf Jahren bestrafen können. Die Strafe wurde noch im selben Jahr auf internationalen Druck ausgesetzt. Die Verurteilte hat anschließend trotzdem das Land verlassen.

„Ohne den Druck der EU hätten wir den Paragrafen heute noch“, sagt Florin Buhuceanu. Er ist Geschäftsführer von Accept, der landesweit größten Schwulen-und-Lesben-Vereinigung. Wo sein Büro ist, soll man nicht schreiben, das Haus hat kein Schild an der Tür, und auch auf der Internetseite von Accept ist die Adresse nicht angegeben. „Die meisten halten das Versteckspiel auf Dauer nicht aus“, sagt Buhuceanu. Wer sich offen zur Homosexualität bekennt, riskiert, die Familie zu verlieren, die Freunde, den Job. Aufgrund der neuen Gesetzeslage könnte man zwar den Arbeitsplatz einklagen, wie die Organisation Accept ihren Mitgliedern rät. Aber Verständnis und Zuneigung kann kein Gericht anordnen.

Vor der Gesetzesänderung veranstalteten Studentenvereinigungen Straßendemos und sprachen in Reportermikrofone, dass Homosexualität eine „Krankheit“ sei, die „behandelt werden muss“. Der Erzbischof von Klausenburg (Cluj), Bartolomeu Anania, nahm die Bibel zur Hand und warnte, man wolle „nach Europa, aber nicht nach Sodom“. In einer Meinungsumfrage gaben im Juli 2002 noch immer 59 Prozent der Befragten an, dass Homosexuelle „keine normalen Menschen“ seien.

Der Sprecher der rumänisch-orthodoxen Kirche, Constantin Stoica, wundert sich noch heute, dass Brüssel ausgerechnet auf die Abschaffung des Paragrafen 200 gedrängt hat. Homosexualität sei in Rumänien nicht das „dringlichste Problem“ gewesen, das es für den angestrebten EU-Beitritt zu lösen galt. Stoica zitiert häufig die Bibel und die Meinung des Volkes, dessen Fürsprecherin die Kirche sei. So hätten sich die Leute angesichts der Diskussion nun mal gefragt, warum man in Europa zuallererst mit „dem Hintern eintreten“ müsse, sagt der Kirchenmann.

Nachts im Queen’s Club, Ramon Stanescu sitzt entspannt in einem Sessel und erzählt, wie es damals vor zwei Jahren war, als er die Nachricht von der Streichung des Paragrafen hörte. Er war weg, in Dubai, und jobbte in einem Hotel. Ein Freund hatte ihn angerufen, sie lachten und überlegten, wie man das am besten sagt: „Ich bin schwul.“ In welcher Tonlage, und was man anzieht für diesen Satz. Dubai war plötzlich wie ein überflüssiges Exil. Ramon legte den Telefonhörer auf und dachte: „Ich kehre in ein freies Land zurück.“

Bei seiner Rückkehr hat er leider etwas anderes vorgefunden. Spielregeln, an die sich alle halten, auch die Besucher des Queen’s Clubs. „Die meisten von uns führen ein Doppelleben. Hier im Club ist man schwul, und vor der Tür tut man so, als hätte es diesen Abend nicht gegeben“, sagt Ramon. Eine Tarnkappe für alle Fälle. Auch die Homosexuellenorganisation Accept und andere Schwulenverbände glaubten vor zwei Jahren, endlich am Ziel zu sein. Sie fühlten sich erschöpft wie stolze Sieger nach dem Marathon. Es war erst die Vorrunde.

Der jahrzehntelang geltende Status von Kriminellen wird der homosexuellen Szene zwar nicht mehr per Gesetz, aber weiter von der orthodoxen Kirche zugewiesen. Der Kirche schenken die Rumänen mehr Glauben als ihrer Regierung. Sagen die Demoskopen. Der Kirchensprecher Constantin Stoica sagt: „Wenn Homosexualität etwas Normales wäre, dann müsste auch Diebstahl etwas Normales sein. Beides ist laut Bibel eine Sünde, die wir als orthodoxe Kirche nicht akzeptieren können.“

Kurz bevor in der rumänischen Debatte um Artikel 200 eine Änderung in Sicht kam, haben sogar die USA Stellung bezogen – wenn auch nur indirekt. Im September 2001 entsandten sie Michael Guest als neuen Botschafter nach Bukarest, einen bekennenden Schwulen. Wieder gab es Aufruhr. Die Zeitungen füllten mit der Nachricht ganze Seiten. Der US-Botschafter hat auf seiner ersten Pressekonferenz in Bukarest erklärt, dass er schwul sei und ob es noch weitere Fragen gebe. Es gab betretenes Schweigen.

„Ohne den Druck der EU hätten wir den Paragrafen heute noch“, sagt der Chef der Schwulenvereinigung

Der Wechsel in der US-Botschaft hat die Rumänen an „ihre neue Rechtslage erinnert“, sagt Robert Krygsman. Er ist 37 Jahre alt, Amerikaner wie Michael Guest – und schwul. Auch er kam nach Rumänien nur für einen Auslandseinsatz. Krygsman hat schon an vielen Orten als Hotelmanager gearbeitet, in Bukarest ist ihm der Einstieg schwerer gefallen als anderswo. Der Szene in Rumänien, meint er, fehle die eigene Prominenz, die sich selbst outet und sich auch offen zu ihrer Homosexualität bekennt. „Das ist besser als jeder US-Botschafter.“

In einem Bukarester Hotel leitete Krygsman anfangs ein junges Team von Angestellten, hauptsächlich Männern. Für sie war er manchmal so etwas wie der Nachhilfelehrer im Fach Gesellschaftskunde. Die Jungs stellten die Fragen, und der Hotelmanager erklärte geduldig. Ob er Kleider im Schrank hat und wer in seiner Partnerschaft der Mann und wer die Frau ist. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass einer der Mann ist und der andere auch. Und so hat der Hotelmanager sehr oft antworten müssen: „Wir sind beide die Männer und beide die Frauen“. Das verwirrte die Angestellten noch mehr.

Krygsman ist einer, der offen erzählt, dass er einen Partner hat. Er weiß auch, dass er es einfacher hat als viele seiner rumänischen Bekannten, die ihr Bekenntnis immer und immer wieder überdenken, weil das Outen so schwer fällt. Wo denn? Zu Hause? Bei der Familie, wo die meisten leben, bis sie eine eigene Familie gründen? Und wie denn? Sollen sie irgendwann zum Abendbrot das Glas erheben und sagen, übrigens, ich ziehe jetzt mit einem Mann zusammen? Krygsman glaubt, sie müssten sich alle gemeinsam artikulieren, weil sie ignoriert werden, auch politisch.

Einmal war Robert Krygsman zu einer Privatfeier in seinem Lieblingsclub geladen. Er hatte die Einladung vergessen. Der Türsteher verweigerte ihm den Zutritt: „Dies ist kein Schwulenabend, und du würdest hilflos herumirren.“ Krygsman hat ihn angesehen und gesagt: „Stimmt, heute ist die Nacht der Hohlköpfe, weil du Schicht hast.“ Vielleicht ist es auch etwas anders gewesen, auf jeden Fall hat der Amerikaner den Club sofort von seiner Ausgehliste gestrichen.

In Bukarest bleibt den Schwulen bislang nur der Queen’s Club. Ein Ort, der klein und unauffällig ist. „Dieses Versteck passt zu uns“, hat Ramon Stanescu gesagt. Er ist im Club auf und ab gegangen, die ganze Nacht, wie einer, der nur 100 Quadratmeter Auslauf hat. Er ist einer der wenigen Gäste im Queen’s, die ihren vollen Namen nennen, wenn man sie danach fragt. Er hat kurz überlegt und dann gesagt: „Zum Glück liest meine Mutter keine deutsche Zeitung.“