„Das Pentagon hat grob versagt“

INTERVIEW BERND PICKERT

taz: Vor einem Jahr haben wir über die Erwartungen von Human Rights Watch an den bevorstehenden Irakkrieg gesprochen. Sie sagten, der Einsatz von Streubomben sei der Schlüssel, um zu beurteilen, ob die USA sich in diesem Krieg an die entsprechenden Konventionen halten oder nicht. Die USA haben Streubomben eingesetzt – was sagen Sie heute?

Kenneth Roth: Es ist etwas sehr Interessantes geschehen: Sie erinnern sich, dass Human Rights Watch 1999, während des Jugoslawienkrieges, herausfand, dass ein Viertel der Zivilisten, die durch Nato-Bomben ums Leben kamen, durch den Einsatz von Streubomben in Wohngebieten starben. Wir kritisierten die US-Luftwaffe deswegen sehr scharf. Interessanterweise haben sie uns zugehört: In Afghanistan und Irak hat die Luftwaffe fast völlig auf den Einsatz von Streubomben in Wohngebieten verzichtet. Wunderbar! Das Problem ist, dass der Irakkrieg der erste Krieg seit über einem Jahrzehnt war, in dem eine große Anzahl Bodentruppen zum Einsatz kam. Leider hat die Army ihre Doktrin nicht genauso verändert wie die Luftwaffe. Sie feuerte aus Artilleriegeschützen Streumunition in Wohngebiete.

Was sind das für Waffen?

Die schlimmste Waffe, die sie eingesetzt haben, ist ein so genanntes Multiple Launch Rocket System. Die Salven bestehen aus sechs Raketen, die fast 4.000 einzelne Sprengkörper im Umkreis von einem Kilometer verstreuen. Das hat eine verheerende Wirkung auf die Zivilisten: Es regnet Tod und Zerstörung auf sie herab. Das war ein großes Versagen der US-Kriegführung.

Wie konnte das passieren?

Das versuchen wir gerade herauszufinden. Es scheint, als hätten Luftwaffe und Army einfach nicht miteinander geredet. Außerdem fehlte es der Armee offenbar an der richtigen Ausrüstung: Sie hatte nur für Ziele innerhalb eines Radius von 30 Kilometern Einzelmunition, die sie präzise abfeuern konnte. All das sind schwache Entschuldigungen für das, was sie angerichtet haben. Es zeigt das grobe Versagen des Pentagons, sicherzustellen, dass die Truppen sich im Irak an humanitäres Völkerrecht halten.

Für die meisten Menschen hier war der Irakkrieg Unrecht, egal wie er geführt wurde. Ist es da nicht ein bisschen seltsam, wenn gerade Menschenrechtler Hinweise geben, wie der Krieg geführt werden sollte, statt sich prinzipiell dagegen einzusetzen?

Human Rights Watch nimmt grundsätzlich keine Stellung zur Frage, ob ein Krieg gerechtfertigt ist oder nicht. Kriege werden geführt, ob uns das gefällt oder nicht. Unser Standpunkt ist: Wenn Krieg eine Realität ist, dann muss man ihn so human wie möglich gestalten und, so gut wir können, verhindern, dass viele Zivilisten getötet werden.

Es gibt keine offizielle Zählung der zivilen Toten im Irakkrieg. Woher wissen Sie eigentlich, dass Sie mit Ihren Bemühungen wirklich erfolgreich sind?

Die Gesamtzahl der Toten ist weniger entscheidend als die Frage, warum die Menschen starben. Wir haben herausgefunden, dass das Pentagon tatsächlich sehr umsichtig vorging, wenn feste, vorab ausgewählte Ziele angegriffen wurden. Da wurde auf die Tageszeit geachtet, wenn möglichst wenige Zivilisten zugegen sind. Da wurde der Angriffswinkel so bestimmt, dass auch im Falle des Verfehlens keine Wohnhäuser getroffen würden und so weiter. Aber es gab zwei Dinge, die viele Opfer gekostet haben: einerseits die Benutzung von Streumunition durch die Army, und andererseits die Enthauptungsstrategie der Luftwaffe, um irakische Führer zu treffen.

Was zu hohen Schäden in Bagdad führte …

Ja. Politische Führer sind in Kriegszeiten legitime militärische Ziele. Aber um herauszufinden, wo diese Führer nun eigentlich waren, ortete die Luftwaffe vor allem deren Satellitentelefone. Über GPS waren sie in der Lage, auf 100 Meter genau zu bestimmen, wo sich die Person befand – oder zumindest ihr Telefon. Aber im Stadtgebiet stehen in einem Radius von 100 Metern eine ganze Menge Häuser. Die Militärs behaupten, sie hätten ergänzende Informationen gehabt, um den Aufenthaltsort ganz genau zu bestimmen – aber diese Informationen müssen ziemlich schwach gewesen sein: Von 50 Versuchen, irakische Führer durch einen Bombenangriff zu töten, ging jeder einzelne schief. Dafür wurden etliche Zivilisten getötet. Das sind Umstände, die es anzuprangern gilt, und sie sagen mehr aus als die Gesamtzahl der Toten.

Sie befassen sich in dem Bericht aber auch mit der Rechtfertigung des Irakkrieges.

Im Hauptkapitel widmen wir uns der Frage, ob der Irakkrieg als humanitäre Intervention charakterisiert werden kann. Das scheint auf den ersten Blick eine unsinnige Frage, denn vor einem Jahr hat darüber ja kein Mensch gesprochen – es ging nur um die angeblichen Massenvernichtungswaffen und die angeblichen Verbindungen zum Terrorismus. Heute, da wir wissen, dass es all das nicht gab, bleibt als Begründung übrig, dass Saddam ein Tyrann war, der es verdient hatte, gestürzt zu werden. So haben wir dieses Argument ernst genommen und überprüft – vor allem auch deshalb, weil wir das Konzept humanitärer Interventionen als mögliche Option erhalten wollen.

Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Die Schlüsselfrage ist, ob zum Zeitpunkt der Intervention ein Massenmord im Gange war oder unmittelbar bevorstand. Denn Krieg bedeutet immer, Menschen zu töten, und Regierungen sollten das nicht tun, wenn es nicht der einzige Weg ist, um Massenmord zu verhindern. Andere Formen der Unterdrückung, der Tyrannei müssen auch bekämpft werden, aber nicht mit militärischen Mitteln. Ob der Krieg wirklich die einzige Möglichkeit war und das humanitäre Anliegen das Hauptmotiv, waren dabei nachgeordnete Fragen. Ebenso wie der Punkt, ob die Entscheidung vom Weltsicherheitsrat gebilligt wurde. Der Irakkrieg besteht die meisten dieser Testfragen nicht.

Der Sturz des Tyrannen reicht also als Rechtfertigung nicht aus?

Wenn man 1988 gefragt hätte, ob eine humanitäre Intervention gerechtfertigt wäre, um den sich entwickelnden Völkermord an den Kurden zu stoppen, wäre die Antwort gewesen: Ganz bestimmt. Selbst 1991 hätte man fragen können, ob eine humanitäre Intervention angebracht ist, um den Mord an 30.000 Menschen zu verhindern. Aber niemand behauptet auch nur, dass es im Jahr 2003 irgendetwas Vergleichbares gegeben hätte. Um also das Instrument der humanitären Intervention zu erhalten, sollte die Bush-Regierung damit aufhören, das Konzept zu missbrauchen, um ihren Krieg zu rechtfertigen.

Ich bin erstaunt, dass Sie das Konzept der humanitären Intervention so hochhalten. Lädt diese Idee nicht geradezu zum Missbrauch ein? Selbst über den Kosovokrieg haben wir inzwischen erfahren, dass eine Reihe der Informationen, mit denen die Entscheidung begründet wurde, so nicht zutraf.

Jedes Konzept kann missbraucht werden. Ich denke allerdings, dass gelegentlich eine humanitäre Intervention nötig ist. Human Rights Watch hat sich etwa während des Völkermordes in Bosnien für eine humanitäre Intervention eingesetzt und während des Völkermordes in Ruanda. In Bosnien hat die internationale Gemeinschaft reagiert, in Ruanda nicht. In beiden Fällen wäre eine Intervention gerechtfertigt gewesen. Es gibt Zeiten, in denen ein Krieg notwendig ist. Nur braucht es klare Kriterien.