Die Szene aus den Löchern locken

Warme Verpflegung und Qualität ohne Grenzen: Heute beginnt im HAU und in den Sophiensælen das lange Wochenende des freien Theaters „100°“. Das Festival, das 130 Gruppen eine Plattform bietet, soll als Markt und als Messe funktionieren

„Bei einer Quote von zehn Prozent guter Aufführungen hat es sich für uns gelohnt“

VON ESTHER SLEVOGT

Das Wochenende beginnt in dieser Woche schon heute. Dann nämlich starten HAU und Sophiensæle das lange Wochenende des freien Theaters „100°“. Knapp 130 Gruppen werden an vier Abenden in einem Vorstellungsmarathon von 18 Uhr bis zum frühen Morgen Einblick in den aktuellen Stand der dramatischen Dinge geben: Open Stage und Qualität ohne Grenzen, weder nach unten noch nach oben. Einzige Kriterien: eine Stunde Aufbau, eine Stunde Vorstellung, und zwar bei null Gage. Täglich um Mitternacht gibt es von berufener Seite einen Tagesbericht: Donnerstag fassen zum Beispiel Tim Staffel im HAU, David Gieselmann in den Sophiensælen die theatralischen Ereignisse des Tages zusammen, Freitag ist dann unter anderem Nicolas Stemann an der Reihe. Geheizte Busse shutteln die Besucher zwischen den Spielorten hin und her. Für wärmende Verpflegung ist ebenfalls gesorgt, wie die Veranstalter angesichts sinkender Temperaturen wissen lassen. Besucher der parallel stattfindenden „Langen Nacht der Museen“ können also auch ins Theater ausweichen.

„Weil wir keine Gage zahlen, mussten wir prominentere Gruppen manchmal etwas überreden“, sagt Carena Schlewitt vom HAU. „Aber wenn man jetzt das Programm anguckt, faltet sich fast die gesamte Genesis des Berliner freien Theaters auf.“ Einige bekannte Namen wie Hans-Werner Kroesinger fehlen im repräsentativen Bild. Dafür ist das Theater o.N., als „Zinnober“ einmal die einzige freie Gruppe der DDR, mit von der Partie.

„Nico and the Navigators“ zeigen einen Querschnitt durch ihre Arbeit, Gob Squat präsentieren noch mal ihre Performance „Toaster“. Mit dabei ist das Theater Zentrifuge, das seit 1969 in Berlin freies Theater macht, neu zu entdecken ist der Slam-Poet Till Müller-Klug, der sich für „100°“ mit der Sängerin Bernadette LaHengst zusammengetan hat. Carena Schlewitt gehörte früher zu den Organisatoren den Podewil-Festivals „reich und berühmt“, wo inzwischen so etablierte Kräfte wie René Pollesch und Stefan Pucher ihren Aufstieg begannen. Ist freies Theater nicht längst Mainstream, fragt man sich da. Auch angesichts des anämischen Zustands, in dem sich bürgerliche Sprechtheater befinden. Christian Holtzhauer, Dramaturg an den Sophiensælen, will das so nicht stehen lassen. „Der wesentliche Unterschied ist immer noch das Geld.“ Ohne Geld sei professionelles Arbeiten nicht möglich.

„Im Sprechtheater haben wir es bei Schauspielern oder Regisseuren mit den Spezialisten des Handwerks zu tun. Im freien Theater treffen wir auf die Spezialisten der Wirklichkeit“, zieht Carena Schlewitt die Grenze zwischen beiden Formen, für die das 100°-Festival auch eine Art Bestandsaufnahme ist: Wo steht die freie Szene jetzt, wo trifft man im Jahr 15 nach dem Mauerfall noch auf die Ausläufer der beiden Staatsformen, die vierzig Jahre diese Stadt dominierten. „Häuser mit einer einigermaßen soliden Finanzierung wie das HAU oder die Sophiensæle sind ja nicht mehr im klassischen Sinne frei und gerade in dieser Zwischenposition ein idealer Ort dafür.“ Schließlich will man den Kontakt zur Basis nicht verlieren.

„Im Gegensatz zur Tanz- und Performance-Szene ist das freie Theater eher schlecht organisiert, da kommuniziert man fast überhaupt nicht untereinander.“ Für Holtzhauer soll das Festival deshalb auch als Kontakthof, Markt und Messe funktionieren. Veranstalter wurden ebenso eingeladen wie Journalisten. „Für freie Gruppen ist es ja oft schwer, überhaupt wahrgenommen zu werden, Kritiken zu bekommen.“

Eigentlich sollte das Festival schon zur Eröffnung des HAU im Herbst stattfinden, was aber dann aus logistischen Gründen nicht zu bewältigen war. Im HAU, dessen Spielplan man getrost als Dauerfestival bezeichnen kann, hat man im Winter bereits das Mini-Nachwuchsfestival „No.Name“ hinter sich gebracht. Auch die Sophiensæle blicken bereits auf das Nachwuchs-Rekrutierungsfestival „Außer Atem“ zurück. Bewirkt so viel institutionalisierte Daueraufgeregtheit mit der Zeit nicht eine Immunisierung beim Publikum, sind zu viele Festivals also langfristig kontraproduktiv? Holtzhauer sieht die Gefährdung insgesamt, aber nicht im vorliegenden Fall. „Hier geht es erst mal um einen breiten Überblick über Berlins freie Szene. Natürlich kann das nicht alles gleich spannend sein. Aber schon bei einer Quote von zehn Prozent spannender Aufführungen hat es sich für uns gelohnt.“ Auch Carena Schlewitt freut sich darauf, die Szene aus ihren Löchern zu locken.