Ein Hauch Familienfeier im Schloss Bellevue

Bundespräsident Rau lud in der Nazizeit versteckte Juden und ihre Retter zum Gespräch und Empfang in seinen Amtssitz

Ein magischer Abend. Ist es der letzte Wintertag oder schon der erste Frühlingstag? Rot geht die Sonne hinterm Kanzleramt unter, der Himmel ist schwarz und klar. Schloss Bellevue strahlt, die repräsentativen Säle des Bundespräsidenten Johannes Rau leuchten. Etwas Außergewöhnliches, lange Versäumtes soll an diesem Donnerstagabend stattfinden: Ein Gespräch mit und über die versteckten Juden der Nazizeit. Eine Ehrung der Nichtjuden, die ihnen halfen, sie vor dem sicheren Tod bewahrten.

Nach neuesten Schätzungen tauchten rund 10.000 bis 15.000 Juden zwischen 1941 und dem Kriegsende in Deutschland unter. Etwa 3.500 erlebten noch das Ende der Verfolgung. Weil sie Glück hatten. Aber auch weil es nichtjüdische Retter gab, die zum Teil unter eigener Lebensgefahr den Versteckten und Bedrohten beistanden. Inge Deutschkron gehört zu den Geretteten. Sie überlebte in der Bürstenbinderei Otto Weidts an der Rosenthaler Straße in Mitte. Oder Charlotte Knobloch, die Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland: Sie entging als Kind den Nazihäschern auf einem Bauernhof, weil deren Besitzerin sie als uneheliches Kind ausgab – und das im konservativ-katholischen Bayern der Vierzigerjahre!

Auf einem kleinen Podium erzählt Charlotte Knobloch ein wenig von dieser Zeit: Freunde habe sie in diesen Jahren nicht gehabt, sagt die resolute Dame. Sie habe eben „mit Tieren geredet – jedes war ein Freund“. Sie versucht zu schildern, wie es war, als sie ihren Vater nach Kriegsende endlich wiedersah. Und kann es nicht. Verschämt drückt sie sich Tränen aus den Augenwinkeln. Der Journalistin und Schriftstellerin Inge Deutschkron fällt das Erzählen leichter. Ihr hilft die Berliner Schnauze. Bei ihr lachen die wohl dreihundert Gäste immer wieder. Sie verstehe nicht, sagt Inge Deutschkron, dass die Retter in Deutschland bisher so wenig öffentliche Anerkennung gefunden hätten. „Der Staat Israel ehrt diese Menschen“, empört sie sich. Spontan dankt sie dem Bundespräsidenten, „dass er endlich diese Angelegenheit aufgegriffen hat“.

Die Hamburgerin Ruth Held gehört zu den Rettern. Als Schülerin organisierte sie eine illegale Lebensmittelhilfe für Verfolgte. Als sie mit ihrer Hilfe für Juden in einer Fabrik aufflog, wurde sie zusammengeschlagen, entging nur knapp der eigenen Deportation. Heinz Droßel, ein Offizier im Zweiten Weltkrieg, half in den letzten Kriegsmonaten vier Juden. Sie überlebten in der Wohnung seiner Eltern in Tempelhof und in anderen Verstecken. Ruth Held und Heinz Droßel reden sichtlich ungern über ihr damaliges Tun – bescheiden wirken sie, die Rettungstat fast selbstverständlich.

Benjamin Herzberg hat 1997 als 14-Jähriger die Geschichte Ruth Helds recherchiert – und was er sagt, findet an diesem Abend den meisten Beifall. Gemeinsam sei allen Retterinnen und Rettern gewesen, dass ihr Handeln auf einem starken „Wertefundament“ gefußt habe. Sie hätten den Nächsten nicht als Fremden gesehen, nicht als „Fremdkörper“. Und das sei eine Einstellung, von der man noch heute, etwa bei der Bioethik-Debatte, lernen könne. Herzberg hat mit seiner Recherche einen Jugend-Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gewonnen. Die Jugendlichen erforschten die Geschichten der so genannten stillen Helden.

Zum Ausklang des Abends spielen Barbara Polášek an der Gitarre und Christoph Probst am Violoncello ein Stück Alexander Arutjunians. Rau ergreift das Wort und berichtet, dass Probst ein Enkel des gleichnamigen Widerstandskämpfers der „Weißen Rose“ ist. Er wurde von den Nazis hingerichtet. Ein Hauch von Familienfeier weht beim anschließenden Empfang durch die Säle von Bellevue. Es war ein magischer Abend. PHILIPP GESSLER