Ungeduld bei Brasiliens Landlosen

Staatspräsident Lulas „friedliche Landreform“ hat noch nicht begonnen. Die Landlosenbewegung MST verstärkt ihre Protestaktionen und sieht noch kein Ende des „Klassenkampfs“. Großgrundbesitzer setzen derweil auf bewaffnete Milizen

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

Der „Waffenstillstand“ zwischen der Landlosenbewegung MST und der Regierung des linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva sei zu Ende, tönt es aus den großen Medien Brasiliens. Bereits gut zwei Monate nach Amtsantritt müsse sich Lula gegen die radikale MST wehren.

Seit zwei Wochen vergeht kaum ein Tag ohne eine Protestaktion der Landlosen, deren Gesamtzahl auf 15 Millionen geschätzt wird. Im nordöstlichen Bundesstaat Alagoas blockierten hunderte MST-Aktivisten eine Hauptverkehrsstraße.Im Mittelwesten besetzten sie zwei Büros der Bundesbehörde für Agrarreform. Unweit von São Paulo schlugen sie ein paar Tage ein Zeltlager auf dem Gelände einer staatlichen Forschungsanstalt auf. Von Amazonien bis nach Südbrasilien wird mit neuen Landbesetzungen gerechnet.

Waffenstillstand? Frei Sérgio Görgen lacht. So etwas habe es nie gegeben, sagt der deutschstämmige Franziskaner, ein Veteran der Kleinbauernbewegungen. „Nicht der Präsident ist unser Gegner, sondern der Großgrundbesitz, das Agrobusiness und das Finanzkapital“, meint der 47-Jährige, der für die Arbeiterpartei PT im Landesparlament des Bundesstaats Rio Grande do Sul sitzt. Jedoch gebe es in der Linken „Meinungsverschiedenheiten“ über den Weg zu einer neuen Wirtschaftspolitik. Die MST fordert einen „Bruch mit dem neoliberalen Modell“, während Lula die rigide Sparpolitik seines Vorgängers fortsetzt – in der Hoffnung, internationale Investoren und den IWF bei Laune zu halten. Entscheidend sei, so Görgen: „Wer bezahlt die Rechnung für die Überwindung des Hungers?“

Speziell in Bezug auf die Landreform sei die Regierung „schwerfällig“, kritisiert João Pedro Stedile von der nationalen MST-Leitung. Wegen der schleppenden Regierungsübergabe seien die Regionalbüros für die Agrarreform seit Oktober lahm gelegt. Die Aktionen der letzten Tage seien ein „Vorgeschmack“ auf eine landesweite Mobilisierung unter dem Motto „Null Toleranz für den Großgrundbesitz“, kündigten Landlosensprecher an.

„Jetzt ist die Jahreszeit, in der die Regeln für die kommende Aussaat festgelegt werden“, so Sérgio Görgen, „daher müssen wir Druck machen.“ Nun finde der „Klassenkampf“ auch in der Regierung statt, analysiert er im Hinblick auf die Bandbreite von Lulas Kabinett, das von Exponenten des Agrobusiness bis zur PT-Linken ein breites Spektrum umfasst.

Trotz der Ansiedlung von gut 300.000 Landlosenfamilien seit 1995 sind noch immer 46 Prozent des Grund und Bodens in der Hand von 1 Prozent der Eigentümer. Eine „friedliche Landreform“ gehört daher zu Lulas Herzensanliegen. Doch ob die militanteren Aktionen der Landlosen diesem Ziel nutzen, ist auch in der PT strittig. Die MST müsse „Klugheit zeigen, um sich nicht von der öffentlichen Meinung zu isolieren“, warnt Parteichef José Genoino. „Die Besetzung produktiver Grundstücke und Randale lehnen wir ab.“

Unzufrieden mit Lula ist auch die Lobby der Großgrundbesitzer, denn der für die Agrarreform verantwortliche Linke Miguel Rossetto hat in seinem Ministerium viele Schlüsselposten mit Sympathisanten der MST besetzt. In den Bundesstaaten Minas Gerais und Paraná stellen Großbauern wieder bewaffnete Milizen auf. „Wenn diese Regierung nicht als Verantwortliche für ein großes Blutbad in die Geschichte eingehen will, muss sie Maßnahmen ergreifen“, droht João Bosco Leal, Chef eines Großgrundbesitzerverbandes. Für den „bewaffneten Widerstand“ einiger seiner Kollegen zeigt er Verständnis: „Wer nicht verteidigt, was er hat, ist nicht wert, es zu besitzen.“