Keatons Augen

Radikaler Humanismus: Der Bremer mirandA-Verlag kommt ohne billige Effekte aus. Ein Porträt des trotzdem gut gelaunten Verlegers Stefan Ehlert

Aus Bremen Tim Schomacker

„Gebe der Himmel, daß der Leser, erkühnt und augenblicklich von grausamer Lust gepackt, seinen steilen und wilden Weg durch die trostlosen Sümpfe dieser finsteren und gifterfüllten Seiten finde, ohne die Richtung zu verlieren.“ Mit diesen Worten beginnt Lautréamont seine Gesänge des Maldoror, erschienen 1869. Die französische Literatur war seinerzeit nicht eben verlegen, wenn es um „explicit lyrics“ ging.

Derlei Pathos ist dem Bremer Verleger Stefan Ehlert fremd. Und bessere Laune als der französische Dichter hat er auch, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Gleichwohl, die Unmittelbarkeit des Schreckens, die Lautréamont den Lesenden an den Hals wünscht, lässt sich auch im schmalen Programm von Ehlerts mirandA-Verlag finden. Ehlert, der seit 2000 literarisch Randständiges meist angloamerikanischer Provenienz in deutscher Übersetzung herausgibt, hat trotz der vielen traumatisierten Menschen, die die Bücher bevölkern, erstaunlich gute Laune. Auch wenn er nicht zu jenen gehört, denen Gewalt und Exzess pures Entertainment sind.

Andererseits produziert er auch nicht gegen das Lesevergnügen an. Vielleicht hat es etwas mit jener grausamen Lust zu tun. Auch mit dem Versuch, Konventionen zu markieren. Performerin Lydia Lunch und Spoken-Word-Artist Henry Rollins etwa sind (immer auch) Kunstfiguren. „Der stellt sich als Macho auf die Bühne und ist eigentlich doch ein kleiner verletzter Junge.“ Was sie schreiben, und wie, ist oft abstoßend. Aber es ist auch auf merkwürdige Weise real. Ihre Texte sezieren Körper – und setzen sie neu zusammen. Allen mirandA-Texten eignet eine Trostlosigkeit, für die es als Bild wahrscheinlich nur die Augen von Buster Keaton gibt.

Was Ehlert zwischen Buchdeckel packt, sind die bitteren Erfahrungen des heruntergekommenen suburbanen Kleinbürgertums. Wie kaum irgendwo sonst liegen die blinden Flecken westlicher Zivilisationsbewegungen so auf dem Präsentierteller wie an den Rändern amerikanischer und britischer Industriestädte. Der Berliner Fotograf Miron Zownir – Mitte der 90er Jahre mit seinem unerbittlichen Bildband Radical Eye zum Geheimtipp der Liebhaber wahrhaftiger Fotografie avanciert – hat mit seinem Pulp-Roman Kein schlichter Abgang etwa einen Reiseführer durch die Landschaft begrenzter Möglichkeiten geschrieben. Das Buch ist schnörkel- und kompromisslos. „Das Grau über dem Eriekanal hatte den Charme eines Leichentuchs, und was von der Stadt noch zu sehen war, hätte jedem Selbstmordkandidaten gefallen.“

Wie der urbane Raum werden Körper und Psyche zu Orten verschiedener Szenarien. Sie sind der prunkvollen Dekadenz entkleidet, wie wir sie bei Lautréamont oder de Sade finden, auch die Oberflächen der Yuppie-Welt sind nicht mehr relevant. „Wenn du tot bist“, heißt es bei Lydia Lunch, „bekommen Wörter wie streitsüchtig, arrogant, schmutzig und vulgär plötzlich einen hübschen Klang.“

Ehlert geht es um Möglichkeiten. Das mirandA-Programm ist kein gegenwartsdidaktisches. Er editiert gegen Gewissheiten an. „Wer kann schon wirklich sagen, wozu er in extremen Situationen fähig ist. Natürlich hoffe ich, gut zu bleiben, integer, aber wissen kann ich es nicht.“ Das ist ein wichtiger Unterschied. „Diese Bücher sind auch wichtig, weil sie Spielräume erweitern.“ Es fing damit an, dass er „ohne so richtig zu wissen, was ich da tue“, Lunch nach einer Performance fragte, ob jemand die Rechte an den Übersetzungen ihrer Texte hat. Ehlerts eigene Motivation hat sich mit dem Verlag entwickelt. Er importierte auch die amerikanische Debatte um Meinungsfreiheit. „Es geht nicht darum, dass ich die Texte alle für ,hohe Literatur‘ halte“, sagt er, „und schon gar nicht stehe ich hinter den Gedanken und Taten der Figuren. Aber wenn man ein bisschen bohrt, kommt eine Menge zum Vorschein.“

Wie weit kann man damit gehen? Die Pointe liefert Ehlert selbst. Das Programm für 2004 kündigt Special an, einen semidokumentarischen Interviewband des bekennenden Sadisten Peter Sotos. „Eher Gewalttat als Literatur“, wie Ehlert sagt. Er weiß noch nicht, „ob ich das wirklich machen soll“. Und die kontinuierliche Markierungsarbeit von mirandA findet dort zu sich selbst, wo ein Buch angekündigt werden, aber dann möglicherweise doch nicht erscheinen kann. So weit kann der nachdenkliche Verleger Stefan Ehlert gehen. „Und danach vielleicht einen Liebesroman ...?“

Nein, wie alles andere sei auch dies nicht ironisch gemeint.