Rede ohne Überschrift

Die Spannung vor der Regierungserklärung des Bundeskanzlers war groß – ebenso groß ist nun die Enttäuschung

von BETTINA GAUS

Wenn eine Rede zwei Wochen lang als nationales Großereignis angekündigt wird, dann wird es immer Leute geben, die davon entsprechend beeindruckt sind – sogar falls sich der Redner dazu entschließen sollte, aus dem Telefonbuch vorzulesen. Die SPD-Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer und Reinhold Hemker drängte es gestern im Bundestag zur Tat: Im Laufschritt eilten beide gemeinsam nach vorne zur Regierungsbank und legten einen bunten Frühlingsstrauß vor den Bundeskanzler hin. Der lächelte, ein wenig überrascht und ein wenig ergriffen. Und ließ die Blumen erst einmal liegen. Was während der Ansprache von Angela Merkel den Fernsehkameras ein hübsches Bild mit erfreulicher Botschaft lieferte.

Blumen für Müntefering

Aber nach der Rede Franz Münteferings hielt es dann auch Gerhard Schröder nicht mehr auf seinem Platz. Er ging auf den SPD-Fraktionsvorsitzenden zu, umarmte ihn – und drückte ihm den Strauß in die Hand. Was Müntefering mit den Blumen gemacht hat, ist nicht überliefert. „Er wird sie in eine Vase gestellt haben“, mutmaßte der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg auf Anfrage. Sollte er Recht haben, dann spräche das immerhin für praktische Vernunft. Das wäre ja auch schon was.

Gerhard Schröder hatte zu seiner freundlichen Geste allen Anlass. Ausgerechnet der sonst als spröde geltende Franz Müntefering zog gestern alle Register des Gefühls. Er sprach nicht über Zahlen, sondern von Menschen: über die Auswirkungen von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit auf Jugendliche und Behinderte und über die Bedeutung der Gerechtigkeit. In den letzten Tagen war der SPD-Politiker zu einigen Plänen des Bundeskanzlers überraschend deutlich auf Distanz gegangen. Umso wichtiger dürfte es für Schröder sein, dass gerade er es war, der nun Verletzungen in den eigenen Reihen zu heilen versuchte. „Er hat die sozialdemokratische Seele angesprochen,“ meinte hinterher ein Parteifreund. „Er hat die Rede gehalten, die Schröder vielleicht hätte halten sollen“, sagte ein anderer.

Zu den Worten des SPD-Fraktionsvorsitzenden wollten sich Abgeordnete der Koalition gestern gerne äußern. Nach der Rede des Bundeskanzlers hatten es hingegen die meisten Parlamentarier, die sich in den Gängen des Reichstagsgebäudes aufhielten, auffallend eilig. Kaum blieb genug Zeit, um auch nur die Frage zu stellen, ob denn alle Erwartungen erfüllt worden seien und nun der große Aufbruch beginne. „Ja meinen Sie denn, dass ich Ihnen jetzt etwas anderes sage?“, rief einer und lief ganz rasch weiter. Nein, das war eigentlich nicht anzunehmen. Einer, der sich dann doch ein paar Minuten für ein Gespräch nahm, sprach vom „Möllemann-Effekt“: So sei das eben, wenn vor irgendeiner Erklärung ganz große Erwartungen aufgebaut worden seien. Dann sei die Enttäuschung hinterher umso größer.

Höchste Erwartungen

Erwartungen und Enttäuschungen: Darum ging es gestern im Bundestag mindestens ebenso sehr wie um die konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, die Schröder ankündigte. Mit gezielten Hinweisen aus dem Umfeld des Kanzlers auf eine „ganz große Rede“, die Aufbruch und Neuanfang bedeuten werde, war die Latte schon vor Tagen unüberwindbar hoch gelegt worden. Wer immer damit begonnen hat, die Spannung auf den gestrigen Tag hin aufzubauen: Dem Kanzler ist damit kein Gefallen getan worden.

Eigentlich ist es die Aufgabe der Opposition, den Glauben zu nähren, eine einzige Rede könne den gordischen Knoten der komplexen Strukturkrise in der Bundesrepublik lösen. Mit dieser Vorstellung wird nämlich zugleich suggeriert, es hinge allein von Tatkraft, Mut und Entschlossenheit der Akteure ab, ob die Krise schnell überwunden werden kann. Jede Regierung weiß, dass das nicht stimmt – und jede Opposition muss zumindest den Eindruck erwecken, daran zu glauben. Die überzogenen Hoffnungen, die sich an die Rede von Gerhard Schröder knüpften, haben deshalb deren Geschäft betrieben.

Ein Redner muss nicht nur daran scheitern, die Realität neu zu erfinden – er kann sich auch nicht selbst neu erfinden. Gerhard Schröder, der nie ein besonders begabter Rhetoriker war, hat gestern das getan, was er seit seinem Amtsantritt in fast jeder Regierungserklärung getan hat. Brav, etwas bieder und gelegentlich sogar buchhalterisch trug er der Reihe nach vor, was die verschiedenen Ressorts des Kabinetts ihm aufgeschrieben hatten. Und was bisher noch jedes Mal fehlte, wurde auch gestern nicht geliefert: eine Überschrift über die Politik der Bundesregierung, die erkennen ließe, was ihr Chef unter Richtlinienkompetenz versteht.

Vielleicht hat Schröder gestern sogar noch etwas kleinteiliger gesprochen als sonst. Über die notwendige Modernisierung des Handwerksrechts sagte der Kanzler: „Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber als selbstständiger Einzelunternehmer braucht der Chef eines Handwerksbetriebs einen Meisterbrief. Künftig soll es reichen, wenn er einen Meister beschäftigt.“ Sehr schön. Aber Aufbruch und Neuanfang?

So nüchtern wie möglich

Wenn man dem Umfeld des Kanzlers glauben will, dann war der Eindruck betonter Sachlichkeit durchaus beabsichtigt. Schröder soll das Manuskript ganz bewusst so nüchtern wie irgend möglich gehalten haben. Er habe befürchtet, so heißt es, dass ihm jede Form des „Pathos“ angesichts des „massiven Glaubwürdigkeitsverlusts“ der vergangenen Monate verübelt werde. Das ist nachvollziehbar. Aber eine Überschrift muss ja nicht unbedingt pathetisch sein.

Zumal Schröder der Gefahr des Pathos an den wenigen Stellen seiner Rede dennoch nicht entkam, an denen er ein paar allgemeine Sätze nicht vermeiden konnte. Er wolle nicht mehr hinnehmen, dass Lösungen an „Einzelinteressen“ scheiterten, so sagte er. Wie meint er das? Was bedeutet Politik seiner Ansicht nach – wenn nicht den Ausgleich zwischen verschiedenen Einzelinteressen? Es gibt berechtigte.

„Wenn alle mitmachen und alle zusammenstehen, dann werden wir das Ziel erreichen“, lautete einer der letzten Sätze von Gerhard Schröder. Weiß er, was er da sagt? Möchte er wirklich das Wohl der Gemeinschaft und deren „Zusammenstehen“ über die Interessen der Individuen gestellt sehen? Für diese Weltsicht wäre „Kitsch“ noch die bei weitem freundlichste aller vorstellbaren Interpretationen. Etwas immerhin hat der Bundeskanzler endlich gesagt, was lange von ihm verlangt worden war: Er hat konkret bekundet, wer seiner Ansicht nach künftig welche Opfer erbringen soll. Wenn die Blumen verwelkt sind, dann dürfte der Widerspruch dagegen vor allem in den eigenen Reihen schnell ziemlich laut werden.

Schröder hat nämlich deutlich gemacht, dass er der Industrie und den Vermögenden allenfalls ein bisschen drohen will. Falls sie nicht endlich lieb sind, dann ist nicht auzuschließen, dass der Gesetzgeber vielleicht doch tätig wird. Möglicherweise sogar schon im nächsten Jahr. Wer sofort bluten soll, steht hingegen bereits jetzt fest: Langzeitarbeitslose, Kassenpatienten und ältere Arbeitnehmer. Beispielsweise. Ob die Sozialdemokraten das mitmachen werden? „Diese Rede ist nicht mehr als eine Blaupause“, sagte gestern ein SPD-Abgeordneter. Jetzt beginne die konkrete Arbeit doch erst. So ist das halt mit Aufbruch und Erneuerung.