Arme wurden schlicht vergessen

Die Gesundheitsreform und die Folgen: Diakonie schlägt Alarm. Menschen, die gesund werden wollen, werden durch die Reform ausgebremst. Mitarbeiter warnen: „Statt Kostensenkung kommt Kostensteigerung“

Bremen taz ■ Herr M. ist alkoholkrank. Jetzt will er davon wegkommen. Der Mann, der einst auf der Straße lebte und jetzt in einem Wohnheim, will entgiften. Seine Betreuer finden das gut, denn genau das wollen sie mit ihrer Arbeit erreichen. Doch die seit Januar geltende Gesundheitsreform macht diesen Erfolg zunichte. Denn M. muss für seine mindestens zehntägige Entgiftung seit neuestem 10 Euro Eigenbeitrag pro Tag leisten – bei 88 Euro Sozialhilfe-Taschengeld im Monat. „Wie soll das gehen?“, fragt Bertold Reetz vom Sozialzentrum der Diakonie – und mit ihm fragten gestern eine Reihe von weiteren ratlosen und wütenden Kollegen eine Reihe von ebenso ratlosen Journalisten. Der Verein für Innere Mission der Diakonie hatte eingeladen, um schon nach den ersten Wochen Gesundheitsreform auf die nach ihrer Sicht katastrophalen Folgen aufmerksam zu machen.

Es trifft nicht nur Menschen wie Herrn M. Es trifft auch Frau K.: Die psychisch kranke Sozialhilfeempfängerin musste im Januar für ihre Behandlung bereits 43 Euro aus eigener Tasche für Ergotherapie, Praxis- und Rezeptgebühr bezahlen. Das belastet nicht nur ihr enges Budget, sondern auch ihren Gesundheitszustand: Die 28-Jährige reagiert mit Panikattacken. Sie fürchtet, hungern zu müssen und ihre Wohnung zu verlieren und will deshalb auf weitere Therapie verzichten. „Die Folge: Ihr Zustand verschlechtert sich“, sagt Bernd Höppner von der Behindertenhilfe der Diakonie. Er zieht daraus den Schluss, dass „das, was erreicht werden sollte, die Kostensenkung, stattdessen zum Gegenteil: zur Kostensteigerung, führt.“ Denn Frau K. , wie nunmehr viele andere Menschen auch, würde statt ambulant versorgt zu werden in der Klinik landen – ein sich wiederholender Kreislauf. „Drehtürpatienten“, sagt Höppner dazu.

Insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung, psychisch Kranke, Alte,Wohnungslose und Asylbewerber seien die wirklichen Verlierer der „Reform“, so Heiko Münch, ebenfalls von der Behindertenhilfe: „Menschen, die eh‘ schon am untersten Ende der Einkommensskala stehen, werden besonders belastet.“ Münch ist wütend: „Über diese Menschen hat niemand nachgedacht, als das beschlossen wurde.“ „Das“ meint die Gesundheitsreform, für die die Bundesgesundheitsministerin wirbt, sie sei nun gerechter für alle Gruppen. „Von wegen gerecht“, sagt Bertold Reetz. Er organisiert die ärztliche Notversorgung Obdachloser im Jakobushaus. „Wir erheben die 10 Euro Praxisgebühr nicht.“ Wenn sie das müssten, „dann schließen wir die Notversorgung.“

Diakonie-Vorstand Klaus Schaumann zitiert aus einem Schreiben des Amts für Soziale Dienste an Sozialhilfeempfänger vom Ende vergangenen Jahres: Weil die Sozialhilfe künftig medizinische Leistungen nicht mehr auffangen werde, heißt es da, könne es „ratsam“ sein, „im Lauf des Jahres Ansparungen vorzunehmen.“ Zynisch finden das die Diakonie-Mitarbeiter, die täglich in Kontakt mit Sozialhilfeempfängern stehen und wissen, dass es schwer genug ist, mit dem Geld hinzukommen – Sparen sei da wirklich nicht drin.

Ein Problem, das hinter andere in der öffentlichen Aufregung noch zurücktritt, benennt Bettina Töpke. Sie leitet das Altenpflegeheim Kirchweg. Zahlreiche Medikamente sind seit Jahresbeginn nicht mehr verschreibungspflichtig – und die werden grundsätzlich nicht mehr erstattet. Nichtsdestotrotz halten Ärzte sie für medizinisch notwendig. Einer ihrer Bewohner habe auf diese Weise bereits 140 Euro berappen müssen, so Töpke. Die Konsequenz aus ihrer Sicht: „Entweder die Menschen verzichten auf bestimmte Medikamente oder sie verschulden sich.“ Ein Sprecher des Berliner Gesundheitsministeriums, der seinen Namen nicht nennen mochte, erklärte dazu gegenüber der taz: Falls zu Beginn des Jahres Härten aufträten, könnten Heime ja in Vorleistungen treten.

Herrn M. haben die Diakonie-Leute übrigens trotzdem zur Entgiftung angemeldet. „Es kann nicht sein, dass jemand gesund werden will, aber die Behandlung nicht zahlen kann“, sagt Bertold Reetz, „mal gucken, was jetzt passiert.“ Nap/sgi