„Ick seh noch een“

Trotz kleiner Abschlussschwäche gewinnt der Boxer Sven Ottke die WM-Titelvereinigung gegen Byron Mitchell und schielt nun zum WBC-Gürtel

„Gott, Wilfried und ich werden die Sache schon auf die Beine stellen“

aus Berlin MATTI LIESKE

Wenn am Ende eines Supermittelgewichts-Kampfes über zwölf Runden beide Boxer ziemlich genauso aussehen wie vor dem ersten Gong, dann stimmt etwas nicht. Entweder war es ein äußerst miserabler Fight oder ein sehr guter. Für die Weltmeisterschaft zwischen Sven Ottke und Byron Mitchell vor 10.000 Zuschauern in der Berliner Max-Schmeling-Halle traf eindeutig Letzteres zu, obwohl zumindest die körperliche Unversehrtheit des knappen Punktsiegers Ottke die zwölfte Runde nicht ganz überdauerte. Da hatte dessen Gattin, die sich auf ihrem Platz am Ring schon beim kleinsten Stupser entsetzt die zahlreichen Haare rauft, plötzlich wahren Grund zur Besorgnis. Mit einigen harten Treffern drohte der berüchtigte K.o.-Schläger Mitchell in dieser Phase Ottkes phänomenale Arbeit der elf Runden zuvor zunichte zu machen, doch der 35-Jährige zog sich auch hier mit Bravour aus der Affäre.

„Ich ärgere mich über meine eigene Doofheit“, schimpfte Ottke anschließend über den kurzen Moment der Unachtsamkeit, der ihn fast den Sieg gekostet hätte, und beklagte ausgiebig die Blessuren in seinem Gesicht. Derartige Entstellungen, bei anderen Boxern selbstverständliche Beigabe jedes Kampfes, ist der nunmehrige Weltmeister der Verbände IBF und WBA eigentlich nicht gewohnt. Von seinen technischen Fähigkeiten her ist Sven Ottke einer der besten Boxer, die es in Deutschland gegeben hat, man kann ihn in dieser Hinsicht durchaus auf eine Stufe mit Henry Maske oder Bubi Scholz stellen. Seine Schlagkraft dagegen „ist respektabel“, wie Gegner Byron Mitchell bemerkte, „aber nicht bedrohlich“. Was den Deutschen zu einem solch unbequemen Gegner macht, fasste der Amerikaner in dem Begriff „Ausgebufftheit“ zusammen. „Ein extrem guter Techniker und Taktiker, der genau weiß, was er machen muss, und wann er es machen muss.“

Ohne Mitchell sonderlich weh zu tun, sammelte Sven Ottke auf diese Weise in dem Vereinigungs-Titelkampf der beiden Verbände genügend Punkte, um trotz des verpatzten Finales am Ende bei zwei von drei Punktrichtern vorn zu liegen. Selbst das Lager des Amerikaners akzeptierte das Urteil, auch wenn man pflichtschuldigst anmerkte, dass der eigene Mann wegen der „klareren und härteren Treffer“ hätte gewinnen müssen. „Ich stelle nie Punktrichterentscheidungen in Frage“, behauptete Mitchells Manager Carl King, der seinem struppeligen Vater Don in puncto Redseligkeit um keinen Deut nachsteht. Dann lobte er Ottke als „brillanten, brillanten Boxer“ und schwang sich im Handumdrehen zum Gesundbeter des Gewerbes auf – ganz nach Familientradition, wiewohl sich King senior auch in den Reihen der Totengräber des Boxens nie unwohl gefühlt hat. „Dass die beiden besten Fighter einer Gewichtsklasse gegeneinander antreten, ist heute eine Seltenheit“, dozierte der Vizeking US-fähnchenschwenkend: „Dieser Abend war ein Segen für das Boxen.“

Ein Segen vor allem auch für Sven Ottke. Der wies jeden Gedanken ans Karriereende zurück, als Weltmeister von zweien der drei wichtigen Boxverbände hofft er nun auf große Kämpfe und noch größere Einnahmen als beim Kampf am Samstag, für den er eine Million Dollar bekam. „Ick seh noch een“, spielte er auf den fehlenden WM-Gürtel des WBC an, den der Kanadier Eric Lucas im April gegen Markus Beyer verteidigt. Zunächst einmal steht jedoch Ottkes Pflichtverteidigung gegen Antwun Echols an, einen weiteren jener gefürchteten Schläger aus den USA, denen Ottke so glänzend zu begegnen weiß.

„Er entwaffnet sie“, lobt Trainer Uli Wegner, der besonders stolz darauf war, wie sich sein Schützling in der kniffligen zwölften Runde aus der Affäre zog, und sich einen kleinen Seitenhieb auf die Konkurrenz nicht verkneifen konnte. „Noch am Morgen haben wir darüber geredet, was Wladimir Klitschko bei seinen Niederlagen zweimal nicht beherzigt hat: über schwierige Situationen hinwegkommen.“ Genau das zeichne jedoch wahrhaft große Boxer aus. Manager Wilfried Sauerland konnte nur beipflichten: „Wie er sich da rausgewunden, befreit und sogar zurückgeschlagen hat, das war für mich die Krönung. Da hat er gezeigt, dass er ein echter Weltmeister ist.“

Und zwar einer, von dem man das nie erwartet hätte. Genüsslich erzählte Wegner, wie er Sauerland einst überreden musste, Ottke unter Vertrag zu nehmen – ganz abgesehen von diesem selbst, der sich lange geweigert hatte, zu den Profis zu wechseln. Dass er ausgerechnet dort jene Erfolge einheimsen würde, die ihm als einem der weltbesten Amateure verwehrt geblieben waren, weil der Kubaner Ariel Hernandez stets noch ein kleines bisschen besser war, hatte damals niemand ahnen können.

So war es ein rundum gelungener Boxabend mit voller Halle, begeisterten Zuschauern, einem großen Kampf und einer Pressekonferenz, die alsbald den Geist einer Oscar-Verleihung versprühte. Jeder bedankte sich bei jedem, Don King jr. bei den Berlinern, Ottke beim Publikum, Sauerland bei Ottke und den Journalisten, Wegner wieder bei den Berlinern. Zwischendurch warb der Weltmeister für die Leipziger Olympiabewerbung („Das Herz sollte entscheiden“), pries seine gerade erschienene Autobiografie, klagte über dicke Augen und zog ein bündiges Fazit: „Die zwölfte Runde war scheiße, der Rest war geil.“

Mr. King fasste derweil schon eine Neuauflage dieser harmonischen WM-Nacht ins Auge: „Lasst es uns doch noch mal machen.“ Daran denke man im Moment überhaupt nicht, erteilte Sauerland dem Gedanken an eine Revanche für den gefährlichen Mitchell eine vorläufige Absage, bei Don King jr. war er damit jedoch an der falschen Adresse: „Gott, Wilfried und ich werden die Sache schon auf die Beine stellen.“