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: Anja Lundholms Roman „Halb und Halb“ erzählt die Geschichte eines jüdischen Mädchens im Berlin der späten Dreißigerjahre

Die Zeit und die Schuld

Literarische Beschreibungen von jüdischen Schicksalen im Berlin vor dem Zweiten Weltkrieg gibt es viele. Die meisten von ihnen drehen sich um das Leben in Intellektuellenkreisen und Politgruppen oder um die Planung und Organisation von Flucht und Emigration. Anja Lundholms Roman „Halb und Halb“ ist da anders. Er schildert das Schicksal eines pubertierenden 16-jährigen jüdischen Mädchens im Berlin der Dreißigerjahre bis zum Kriegsbeginn.

Lundholms Heldin Helga Altenberg ist nach den neuen Rassengesetzen jüdischer Mischling „ersten Grades“ und damit strengen Restriktionen der Nazis ausgesetzt. So erhält sie in ihrer Heimatstadt Krefeld kein Abschlusszeugnis. „Man hatte sie ausgeschlossen, boykottiert, isoliert. Ein Irrtum? Nein, unmöglich. Lehrer irrten sich doch nicht. Also lag die Schuld bei ihr – ich bin schuldig –, aber was habe ich denn getan?“

Diese Szene zu Beginn des Romans wirkt durch eine knappe und symbolträchtige Sprache albtraumhaft und lässt das Grauen der Zeit spüren. Schon hier zeigt sich Lundholms Fähigkeit, Gefühle im Leser zu erzeugen. Das Mädchen fühlt sich vor ein übermächtiges Gericht gestellt und ohne Erklärungen abgeurteilt und bestraft. Die personifizierte Strafe aber ist ihr eigener autoritärer und nationaldeutscher Vater. Die Schuld Helgas ist die „Schande“ ihrer Herkunft. Erst nach einem Selbstmordversuch klärt die Mutter, die aus einem wohlhabenden jüdischen Haus stammt, Helga auf. Sie schickt ihre Tochter nach Berlin, wo sie Musik studieren soll.

Berlin als Metropole wird Helga zur Wahlheimat und zum Synonym für ein unabhängiges Künstlerleben, zum Schutzschild gegen provinzielle Engstirnigkeit, aber auch zum Fluchtpunkt vor der Wirklichkeit. Sie findet Kontakt zu Filmleuten, tingelt durch das Nachtleben und versucht dann selbst, bei Kabarett und Film unterzukommen.

Persönliche Erlebnisse mit den Machthabern, der Tod der Mutter und eine rapide Verschlimmerung der jüdischen Lebenssituation treiben Helga schließlich in letzter Minute zur Flucht aus Deutschland. Als sie die Grenze am Brenner passiert, löst sie sich endgültig von ihrem Elternhaus und von Deutschland. Gleichzeitig ist dieser Schritt ihr Eintritt in ein bewusstes Erwachsenenleben.

Zwei Jahreszeiten und zwei Jahreszahlen vermitteln den historischen Bezug und teilen die verschiedenen Entwicklungsphasen des Mädchens ein. Sie sind die Indikatoren für die politische Entwicklung Deutschlands und entscheidende Etappen in Helgas Leben. Es ist die Zeit, die im Mittelpunkt dieses Romans steht, sie hat das Schicksal Helgas und auch der Autorin unwiderruflich geprägt. „Ich will nicht ein Einzelschicksal in den Mittelpunkt meiner Bücher stellen, sondern eine Zeit begreifbar machen“, sagt Anja Lundholm, die in dem Roman eigene Jugenderlebnisse verarbeitet hat.

INGRID WALTER

Anja Lundholm: „Halb und Halb“, Roman, Langen-Müller, München 2002, 450 S., 19,90 Euro