Köpfe für manche, Äpfel für alle

Vom Erbfeind lernen heißt (Bild)hauen lernen. Das Marcks-Haus zeigt die ambivalente Vorbildfunktion französischer Künstler

Deutsche sind schon immer gern nach Frankreich gefahren, vor allem, wenn sie Künstler sind. Um zu lernen und hinterher zu sagen, dass man doch irgendwie anders sei, insbesondere weniger oberflächlich. Was die Kunsthalle vergangenes Jahr an Hand von van Gogh und dem Künstlerstreit um den Ankauf des „welschen“ Mohnfeldes für die Malerei gezeigt hat, ist ab Sonntag im Marcks-Haus in Bezug auf Bildhauerei zu besichtigen. Unter dem Titel „Für Deutsche unnachahmlich“.

Also: Wieviel Gliedmaßen braucht ein „Schreitender Mann“? Bei Auguste Rodin nur noch zwei. Durch diese um 1900 als ungeheuer radikal empfundene Zurschaustellung von etwas „Unvollständigem“ steigerte sich die allgemeine Akzeptanz von Torso-Figuren erheblich. Entsprechend zeigt das Marcks-Haus neben Rodins schreitender Revolution auch die wenig später entstandenen rumpforientierten Werke von Emile-Antoine Bourdelle, Bernhard Hoetger und Wilhelm Lehmbruck.

Die sinnfällige Differenz zwischen den französischen und deutschen Arbeiten: Letztere erfreuen sich zwar der neu errungenen Arm- und Beinfreiheit, der Kopf jedoch erschien den deutschen Künstlern fast ausnahmslos unverzichtbar. Reduktion, schön und gut – aber doch bitte unter Beibehaltung des „seelischen“ Kerns.

Die ideologische Abgrenzung der Deutschen gegen ihre französischen Kollegen – bei gleichzeitiger Anerkennung von deren ästhetischer Vorreiterrolle – schwebt über der gesamten Schau. Kurator Arie Hartog ist es gelungen, prototypische binationale Paarungen zusammen zu leihen, die das produktive Spannungsverhältnis über die „Erbfeind“-Grenze hinweg prächtig veranschaulichen. Alle Werke stammen aus den Jahren zwischen 1890 und 1940, also einem Zeitraum, in dem sich sowohl in Frankreich als auch in Deutschland die Autonomisierung der Plastik durchsetzte: ihre Unabhängigkeit von Aufträgen und Aufgaben.

Wobei das Darbieten von Äpfeln nach wie vor ein beliebtes Motiv darstellte. Neben Aristide Maillols „Pomona“ von 1911 ist Gerhard Marcks’ erst 20 Jahre später, aber unter expliziter Bezugnahme auf Maillol geschaffene „Thüringer Venus“ zu sehen. Deren Äußeres entspricht in fast grotesker Weise dem Bild einer Ökotruse der 1980er Jahre – als ob sie von Gerhards Namensvetterin Marie skizziert worden wäre. Strähniges Haar fällt auf eine tief tendierende Brustpartie, die knollige Nase entspricht in ihren Proportionen dem übrigen Körperbau. Welch Unterschied zu Maillols ähnlich vollschlanker, aber viel spannungsreicher modulierten Pomona! Allein schon die zarte Gliederung von deren Fußpartie spricht eine völlig andere Sprache als Marcks’ birkenstockiges Pendant, ganz zu schweigen von Pomonas weit bewegterer Rückenpartie.

Ein gewollter Gegensatz. Kurz vor dem Entstehen seiner Venus hatte Marcks, offenbar stark an einer nationalen Identitätsgenese interessiert, an Maillol geschrieben: „Wir haben statt der Lieblichkeit die Hässlichkeit, die hat auch ihre Ausdrucksmöglichkeiten.“ Henning Bleyl

Bis 9.5. Eröffnung: Sonntag, 11.30 Uhr