Auf Kosten der Patienten

Wenn es um den Absatz von Medikamenten geht, sind die Pharmafirmen besonders fantasiereich. Nutzlose Pillen, finanziell geförderte Ärzte und gekaufte Selbsthilfegruppen steigern den Umsatz

Die Werbung bedient sich bei diesen Produkten häufig der Angstmacherei

VON WERNER LOOSEN

In Deutschland sind im Jahr 2002 knapp 2.500 neue Humanarzneimittel zugelassen worden. Zum selben Zeitpunkt ist die Zahl der tatsächlich neuen Wirkstoffe (28) gegenüber dem Vorjahr (33) gesunken. Insgesamt gibt es in Deutschland knapp 50.000 Medikamente (in Skandinavien sind es nur rund 3.000), inklusive Homöopathika, Anthroposophika oder auch apothekereigene Formen – nach dem Motto: Jedem Patienten sein eigenes Mittelchen. Allerdings: Auf etwa 2.000 Präparate entfallen mehr als 90 Prozent aller Verordnungen.

Wer braucht so viele Medikamente? Die Pharmaindustrie ganz sicher, denn sie lebt davon. Wer sich fragt, wie viel Missbrauch damit möglich ist, könnte sich beruhigen. Denn in Deutschland, wie auch anderswo, gibt es Leitlinien, an die sich die behandelnden Ärzte halten sollen und die von der jeweiligen Fachgesellschaft und auch von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft ausgearbeitet worden sind; niemand kann verlässlich sagen, wie viele Leitlinien es in Deutschland gibt – sicher sind es einige hundert.

Damit wir uns aber nicht allzu beruhigt zurücklehnen: Auch in Kanada gibt es Leitlinien. 200 Autoren haben an ihrer Erstellung mitgewirkt. 87 Prozent dieser Autoren haben Geschäftsbeziehungen zur Pharmaindustrie, 38 Prozent bekamen vertragliche Honorare von oder waren in einem Anstellungsverhältnis bei der Pharmaindustrie; in 58 Prozent gab die Industrie Geld in Form von Sponsoring.

Genannt wurden diese Zahlen von einer kanadischen Arbeitsgruppe, die außerdem beschrieben hat, welche Korrelation es zwischen der Positivbewertung von Therapiestrategien durch Experten und deren materiellen Industriekontakten gibt.

Da muss sich niemand wundern, wenn ein Pharmakritiker wie Professor Peter Schönhöfer, ehemaliger Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie in Bremen, vor dem so genannten Pharmamarketing warnt. Allerdings fügt Schönhöfer, langjähriger Mitherausgeber des arznei-telegramms, hinzu: „Ich sage nicht, und habe es nie gesagt, dass alle Ärzte korrumpierbar sind. Aber es ist die Strategie der pharmazeutischen Industrie, dass es so weit kommt.“

Ein Grund für das aggressive Pharmamarketing ist vor allem die Innovationsschwäche der Industrie. Beispielsweise sind in den Jahren 1990 bis 2001 gerade mal vier tatsächlich neue Präparate entstanden, etwa für die Anwendungsgebiete Herz-Kreislauf, Onkologie oder HIV. In jedem Jahr werden etwa 30 neue Wirksubstanzen gefunden. Umgesetzt werden sie in 120 bis 150 angeblich neue Arzneimittel.

Tatsächlich entsteht für den ambulanten Bereich etwa alle zwei bis drei Jahre ein wirklich relevantes Medikament. Ganz nebenher gibt es dann auch neue Therapiestrategien, etwa die ACE-Hemmer oder der Betablocker gegen Bluthochdruck oder Herzinsuffizienz.

Damit aber sehr viel mehr Medikamente umgesetzt werden können, werden Scheininnovationen auf den Markt geworfen. Um diesen Tatbestand zu verschleiern, bedient sich die Industrie nach den Worten Schönhöfers Datenfälschungen zur Verkaufsförderung. Zudem werden Produkte erzeugt, die nicht etwa Krankheiten bekämpfen sollen: Dazu gehören die so genannten Lifestylemedikamente für Wellness und Fitness, aber auch die Nahrungsmittelergänzungsstoffe.

Die Werbung bedient sich bei diesen Produkten häufig der Angstmacherei nach dem Motto: Mensch, wenn du das jetzt nicht machst, wird dir Schlimmes passieren. Die Zielgruppe: Gesunde in Ländern der Ersten Welt. Sie stellen immer noch, allem Krankheitsgerede zum Trotz, den größten Bevölkerungsanteil. Und sie sind wohlhabend. „Die genannten Anwendungsgebiete sind ein Paradebeispiel für Profitmaximierung ohne nachweisbaren gesundheitlichen Nutzen“, sagt Peter Schönhöfer.

Es geht aber auch anders. Ein Beispiel ist das so genannte disease mongering, das Erfinden von Volkskrankheiten: Dafür werden physiologische Veränderungen umdefiniert, Laborbefunde oder Befindlichkeitsstörungen so lange künstlich hochgespielt, bis in der Bevölkerung ein Krankheitsbewusstsein entsteht. So geschehen bei zahlreichen Frauen: An Kaninchen war festgestellt worden, dass deren Vaginadurchblutung sich nach der Gabe von Viagra verbessert – der Rest ist schon Geschichte: Frauen nehmen den Wirkstoff Sildenafil, weil sie die gerade entdeckte „Krankheit“ ernst nehmen und sich nicht vorwerfen wollen, etwas versäumt zu haben. Ähnliche Beispiele lassen sich finden für Glatzenbildung, Erektionsstörungen, Erinnerungslücken und Hautalterung: „Es gibt keinen Beleg für die behaupteten Wirkungen, aber der Bevölkerung werden Krankheiten eingeredet“, stellt Schönhöfer lapidar fest.

Ein anderes Beispiel nennt der Arzt und Historiker Professor Klaus Dörner. In seinem Buch „Die Gesundheitsfalle“ schreibt er: „Ich habe aus zwei Zeitungen zwei Jahre lang alle Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen zur Häufigkeit behandlungsbedürftiger psychischer Störungen gesammelt, etwa Angst, Depression, Essstörung, Schmerzen, Süchte, Schlaflosigkeit oder Traumata. Danach habe ich die für jede Störungen ermittelten Prozentzahlen addiert: Ich kam auf 210 Prozent. Jeder Bundesbürger wäre also wegen mehr als zwei psychischen Störungen behandlungsbedürftig!“

Solches Vorgehen lohnt: Aus dem Markt der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) von etwas mehr als 22 Milliarden Euro zieht die Pharmaindustrie an direkten Einnahmen zwischen 13 und 14 Milliarden. Davon gehen fünf Milliarden ins Marketing; zwei Milliarden sind allein für Pharmareferenten reserviert, 1,5 Milliarden für die ärztliche Fortbildung; eine Milliarde wird für so genannte Anwendungsbeobachtungen bereitgestellt.

Ärzte füllen dafür säuberlich Fragebögen aus bezüglich des jeweils verordneten Mittels, sie verschreiben es der Bequemlichkeit halber oft weiter – das ist der eigentliche Sinn der Sache. 180 Millionen Euro dienen der Direktwerbung über gekaufte „Berichterstatter“.

Die Zeitschrift Journalist berichtete kürzlich, das ZDF wolle nach heftiger Kritik seine Zusammenarbeit mit Dritten im Programmbereich überprüfen: „So soll es ab Anfang 2004 keine ‚medizinisch-pharmazeutischen Kooperationen‘ mehr geben. Die Sendung ‚Praxis täglich‘ wurde bereits aus dem Programm genommen. Immerhin“, so Journalist weiter, „wurde damit eingestanden, dass solche ‚Kooperationen‘ mit der Pharmaindustrie bislang an der Tagesordnung waren.“

Ein weiteres Beispiel für gelungenes Pharmamarketing: Da laden der Aktionskreis Psychiatrie und der Deutsche Hausärzteverband zu einer Pressekonferenz, in der sie „neue Allianzen für eine bessere Versorgung psychisch Kranker“ vorstellen wollen. Ein möglicherweise löbliches Unterfangen, bei dem es auch um „Probleme der – aus unserer Sicht – unzureichenden medikamentösen Versorgung psychisch Erkrankter“ gehe. Unterstützt wird die Organisation der Veranstaltung von einer Agentur, die sonst für einen bekannten Pharmahersteller tätig ist. Peter Schönhöfer sagt in solchen Fällen, ärztliche Fortbildung sei allein Sache der Ärzte, da habe der Warenanbieter nichts zu suchen.

Längst zieht das Pharmamarketing weitere Kreise. Schon sind nach den Worten von Peter Schönhöfer auch Patientenverbände korrumpiert, gemäß einer vor wenigen Jahren in Großbritannien erstellten Wunschliste der pharmazeutischen Industrie, solche Verbände, notfalls mit Hilfe der Politik, so zu beeinflussen, dass „sie morgen unsere Interessen vertreten“.

Ein Beispiel: „Arbeitsausfall oder Frühverrentung aufgrund psychischer Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie oder bipolare Erkrankungen haben dramatisch zugenommen. Dennoch ist die bestmögliche Versorgung psychisch kranker Menschen nicht immer gewährleistet. Die Familien-Selbsthilfe Psychiatrie (BApK) stellt sich aktiv dieser Situation und bietet mit ihren neuen, innovativen Projekten Unterstützung und Information. Das erklärte der Bundesverband auf seiner Jahres-Pressekonferenz. Vorgestellt wurde eine bundesweite Aufklärungskampagne zu psychischen Erkrankungen in Kooperation mit den ‚Selbsthilfe-Fördergemeinschaften der Ersatzkassen‘.“ So steht es in einer Pressemitteilung. Die Organisation der genannten Pressekonferenz, heißt es weiter, „wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung …“ – es folgt der Name eines bedeutenden Pharmaherstellers.

Sicher kann gegengesteuert werden. Dazu ein Kernsatz Peter Schönhöfers: „Vieles ist machbar, aber es wird nicht gewollt.“ Immerhin gebe es inzwischen EU-Bestrebungen, Arzneimittel künftig nach Bedarf zuzulassen. Dies sei erfreulich, denn, so Schönhöfer: „Ich sehe das Pharmamarketing als die größte Bedrohung unserer medizinischen Versorgung!“