Die bestmögliche liberale Gesellschaft

Schriften zu Zeitschriften: Der neue „Mittelweg 36“ untersucht John Rawls’ Gerechtigkeitsdenken als US-Mission

Wenn man die Reaktionen betrachtet auf die Ruck-Rede, die keine war, dann müsste Schröder eigentlich alles richtig gemacht haben. Alle sind unzufrieden, und das ist doch eigentlich ein guter Erfolg, denn es geht ja um eine grundsätzliche Infragestellung der Maßstäbe von Verteilungsgerechtigkeit.

Und da hat eben jeder seine eigenen. Was ist gerecht? 32 Monate Arbeitslosengeld? Die Freiheit des Unternehmers? Die Belohnung von Leistung? Der Kern des so genannten Dritten Wegs, jenes etwas substanzreicheren britischen Vorbilds für Schröders Neue Mitte, war im Grunde genau diese Suche nach einer Neudefinition von Verteilungsgerechtigkeit.

In den Vereinigten Staaten dominiert eine andere Denkschule: die Gerechtigkeitsphilosophie von John Rawls. Sein Modell ist vielleicht gerade wegen seiner Schlichtheit so beliebt – die Vorstellung nämlich, dass eine Gesellschaft dann gerecht sei, wenn ihre Gesetze zuvor in einer „ursprünglichen Situation“, also hinter einem „Schleier der Unwissenheit“, entworfen wird von Personen, die nicht wissen, welche Position sie in der Gemeinde, die sie entwerfen, schließlich einnehmen werden. Unter diesen Bedingungen werden sich freie und vernünftige Menschen, so Rawls, auf zwei Dinge einigen: auf eine Reihe abstrakter Prinzipien, die die Verteilung von Gütern und Freiheit regeln; und auf eine Verfassungsstruktur, die jener der Vereinigten Staaten bis aufs Haar gleicht.

Dieses Modell ist in den USA so populär, dass Raymond Geuss, Philosophie-Dozent in Cambridge, sogar das böse Wort von der Hegemonie in den Mund nimmt. In der Tat ist vor allem der zweite Punkt in den USA schon fast so etwas wie eine Volksweisheit, und Geuss stellt sich in seinem Beitrag für die aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Mittelweg 36 die Frage, warum in eben jenem Zeitraum, in dem sich Rawls’ Philosophie an den US-amerikanischen Bildungsinstituten breit macht, die Schere zwischen Arm und Reich sich nicht etwa schließt, sondern immer weiter öffnet.

Geuss bietet mehrere Hypothesen an. Vor allem hat es die politische Philosophie Rawls’ versäumt, ein methodisches Bewusstsein zu entwickeln, das sie aus dem Scheitern anderer politischer Fantasien von Idealzuständen (dem Marxismus beispielsweise) hätte lernen müssen – dass man nämlich die Tiefenstrukturen einer Theorie und die daraus resultierenden, möglicherweise ungewollten Effekte bei ihrer Realisierung bedenken muss. Das aber ist in Rawls’ „Urzustand“ nicht möglich: Denn Unwissenheit ist ja gerade das, was der Schleier garantieren soll.

Rawls hat später selbst das Interesse an seine Schleier-Idee verloren und sich in seinem letzten systematischen Werk, „The Law of Peoples“, der politischen Wirklichkeit zugewandt. Darin werden fünf Gesellschaftstypen unterschieden: liberale, anständige, gesetzlose, benachteiligte und „wohlwollend absolutistische“. Das kommt uns bekannt vor. Die selbstsichere Identifizierung von rogue states hat hier ihren Ursprung, auch der Gedanke, dass man solche Staaten von der Warte des liberalen Staates schlechthin, sprich den USA, zivilisieren dürfe. Dieses Selbstbild spricht auch aus der Äußerung von Condoleezza Rice, dass es nur „ein einziges tragfähiges Modell des nationalen Erfolges“ gebe, das „richtig und wahr für jeden Menschen in jeder Gesellschaft ist“. Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass Frau Rice die Gesellschaft, in der dieses Modell zu finden ist, eindeutig identifizieren kann. Der Irak ist es jedenfalls nicht.

Es ist viel die Rede gewesen davon, wie sehr Bushs Krieg religiös motiviert ist. Dass solche Vorstellungen auch in der Prominenz von Rawls’ politischer Philosophie wurzeln könnten, ist dagegen wenig thematisiert worden. Leider beendet Raymond Geuss seinen Beitrag an der Stelle, wo es hätte interessant werden können: bei der Frage nach einer möglichen Verquickung des politischen Anspruchs mit einem religiösen, der auf diese Weise schließlich das Terrain der Rechtsphilosophie verlässt, weil die moralische Dimension darin längst dominiert. Weitergehend bedingt dies die Frage, ob man sich als auserwähltes Land – und zwar sowohl von Gott als auch aufgrund der Beheimatung der bestmöglichen liberalen Gesellschaft – über das internationale Recht erheben darf, um seiner moralischen Pflicht gerecht zu werden. SEBASTIAN HANDKE

Mittelweg 36, Heft Februar/März 2003, 9,50 €