Ein Softie regiert jetzt das Reich der Mitte

Der neue Premierminister der Volksrepublik China, Wen Jiabao, lässt alle Eigenschaften früherer KP-Führer vermissen

China ist an starke Führer gewöhnt: die wie Mao Tse-tung und Deng Xiaoping den langen Marsch durchstanden oder wie Zhu Rongji „über Landminen“ gingen, um sich durchzusetzen. Zhus Nachfolger als Premierminister aber sieht sich selbst als Softie: „Viele glauben, ich sei ein milder Mensch“, stellte sich der 60-jährige Wen Jiabao gestern bei seinem ersten Auftritt nach seiner „Wahl“ vor einem nationalen Fernsehpublikum dem chinesischen Normalbürger vor.

Das dürfte nicht gut angekommen sein. Ebenso wenig wie der erhobene Zeigefinger, während sein Blick die Kameras suchte, und der unnötige Verweis auf seine bescheidene Herkunft aus der Famile eines Dorflehrers. Sprach Wen nicht gerade selbst wie ein Dorflehrer, dem nicht ein einziger Ausspruch gelingt, um sein Publikum wachzurütteln? Hier liegt offenbar das große Handikap des neuen Regierungschefs. Er ist kein Selbstdarsteller. Wer ihn kennt, sagt, er höre lieber zu, als selbst lange Reden zu halten. In einer politischen Kultur, die sich sehr stark an Führungspersönlichkeiten orientiert, könnte der hagere, kleine Mann im Volksmund zur Lachnummer werden. Doch birgt seine wohl nicht nur zur Schau getragene Bescheidenheit auch Stärken: Kein zweiter Kommunist mit zwei Jahrzehnten Reformerfahrung im zentralen Pekinger Machtapparat hat sich so lernfähig gezeigt wie Wen.

Von Vorgänger Zhu wird erzählt, dass er damit gedroht hätte, sich in ein Zimmer einzuschließen und nicht eher wieder herauszukommen, bis Wen als sein Nachfolger feststünde. Das spricht Bände über Wens Kompetenzvorsprung innerhalb der engsten Partei- und Staatsführung. Er selbst attestiert sich ein „Computerhirn“. Entscheidend für seinen neuen Job aber dürfte seine wirtschafts-, finanz- und umweltpolitische Expertise sein: Er will die vier großen Staatsbanken in Aktiengesellschaften umwandeln und auch große Staatsunternehmen in die Privatwirtschaft entlassen.

„Wir müssen den Bauern mehr geben und weniger nehmen“, lautet sein landwirtschaftliches Reformcredo. „Wir müssen Wasser sparen, bevor wir es umleiten“, wird er bezüglich des großen Süd-Nord-Transferprojektes für Wasser aus dem Jangtse-Fluss zitiert. „In Umweltfragen ist Wen der fortschrittlichste Führer, den China je hatte“, glaubt der US-amerikanische Sinologe Andrew Nathan.

Der Ruf der Fortschrittlichkeit umweht Wen ausgerechnet seit dem heikelsten Tag seiner politischen Laufbahn. Denn er war es, der den politisch bereits erledigten Generalsekretär der KP, Zhao Ziyang, am 19. Mai 1989 zu den demonstrierenden Studenten auf den Platz des Himmlischen Friedens begleitete. Ein berühmtes Foto zeigt beide im Gespräch mit den Demonstranten. Zhao unternahm damals einen letzten Versuch, die Studentenrevolte friedlich zu beenden – und wurde kurz darauf von den Parteiälteren um Deng Xiaoping aus dem Amt entfernt. Wen aber überlebte auch diese Säuberung, nachdem zuvor bereits sein Mentor Hu Yaobang vorzeitig aus dem Amt des Generalsekretärs entfernt worden war.

Ist der neue Premier also ein Chamäleon? Wohl eher ein Arbeitstier, das man auf der Großbaustelle der chinesischen Reformpolitik bislang immer benötigte. Behält er die Übersicht, werden ihm die Chinesen sein mangelndes Charisma vielleicht verzeihen. GEORG BLUME