In Chinas Ozean der Arbeitslosen

Der neue chinesische Premierminister Wen Jiabao legt bei der Vorstellung seines Regierungsprogramms Angst einflößende Zahlen vor und propagiert anschließend eine ländliche Steuerreform und eine effizientere Korruptionsbekämpfung

aus Peking GEORG BLUME

Chinas neuer Regierungschef glaubt nicht, dass sich die Probleme seines Landes einfach lösen lassen. Mit dem Satz „Es ist überhaupt nicht leicht, ein guter Premier zu sein“, warnte Wen Jiabao, der am Sonntag vom Volkskongress ernannte Premierminister, bei seiner gestrigen Vorstellung vor allzu hohen Erwartungen. Wen ist bislang auch in China kaum bekannt. So nutzte er eine im Staatsfernsehen ausgestrahlte zweistündige Pressekonferenz, um etwas vom Glanz seines populären Vorgängers Zhu Rongji abzutragen.

Wen überschüttete sein Publikum mit Angst einflößenden Zahlen. So zähle China heute 14 Millionen Arbeitslose, weitere 10 Millionen Jugendliche drängten pro Jahr auf den Arbeitsmarkt, derweil 120 Millionen Wanderarbeiter nur unregelmäßig beschäftigt seien und 90 Millionen Menschen in tiefer Armut lebten. Wen rechnete vor, dass Chinas arbeitende Bevölkerung 740 Millionen Menschen zähle, während in allen Industrieländern nur 430 Millionen Menschen arbeiteten. „Das sind Zahlen, die mich beunruhigen,“ sagte er und fügte zur Beruhigung hinzu: „Der Sozialismus ist wie ein großer Ozean, und weil das so ist, wird er nie vertrocknen“. Ob ihm das an Hollywood gewöhnte Fernsehvolk da noch folgen konnte?

Wen, der gemeinhin als brilliantester Kopf der Kommunistischen Partei gilt, erklärte in rasendem Tempo sein Programm: „Strategische wirtschaftliche Restrukturierung“, „Standardisierung der Marktwirtschaft“, „gleiche Rahmenbedingungen für Privatunternehmen“, „Reform des Finanzsystems“ und schließlich die „Priorität unter den Prioritäten“, die Reform der Landwirtschaft. Vom großen Ozean war plötzlich keine Rede mehr.

Dafür konzentrierte sich Wen auf die Achillesferse seiner Partei: die seit Jahren Einkommen verlierenden Bauern, in deren Namen die Kommunisten einst angetreten waren. Wen will mit einer Steuerreform das Problem lösen, „an dem früher schon die Kaiser gescheitert sind“. In Chinas Geschichte führte noch jede ländliche Steuerreform zu mehr Abgaben. Das soll nun anders werden. Wie? „Nur wenn die Öffentlichkeit die Regierung überwacht, wird die Regierung nicht müde werden“, formulierte Wen einen Satz, der so bisher nicht in den Lehrbüchern der KP-Diktatur steht. Explizit erwähnte er dabei den Kontrollauftrag der Medien. Das klang, als würden die Kommunisten weniger zur Selbstüberschätzung neigen als bisher, zumal auch der neue starke Mann neben Wen und Staats- und Parteichef Hu Jintao, Vizepräsident Zeng Qinghong, mehr Medienfreiheit zur Korruptionsbekämpfung befürworten soll.

Von Korruption muss heute in China übrigens bei jeder offiziellen Pressekonferenz die Rede sein – so allgegenwärtig ist das Thema in der Bevölkerung. Diesmal fiel auf, wie gut ein Journalist der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua seine Frage formulierte: „Stimmt es, dass die Anti-Korruptions-Kampagne der Regierung nur dazu dient, immer größere Skandale aufzudecken?“ Es ist eben nicht leicht, heute in China Premier zu sein.

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