Ein streitbarer Feuerkopf

Ralph Giordano, nach eigenem Bekunden ein „in Köln lebender Hamburger Schriftsteller“, wird heute 80 Jahre alt. Die Verfolgung in der NS-Zeit prägt sein Werk und Leben, seine Positionen zu Israel und der Friedensbewegung sind umstritten

von MARCO CARINI

Er wird nicht müde, das Wort zu ergreifen, sich lautstark einzumischen. In den vergangenen Wochen war seine harsche Kritik an der Friedensbewegung unüberhörbar und für viele Kriegsgegner nur schwer erträglich. In einem gemeinsam mit der Publizistin Lea Rosh und anderen Intellektuellen verfassten Aufruf warf er der Antikriegsbewegung „eine gefährliche Mischung aus Antiamerikanismus und Naivität“ vor. Das Leiden der Menschen im Irak unter Hussein und dessen Unterstützung des Terrors gegen Israels seien Realitäten, „auf die der abstrakte Wunsch nach Frieden keine Antwort“ gebe. Auch wenn er hoffe, dass „es keinen Krieg gibt“ sei er „in einer Welt, in der es einen Hitler gegeben hat und ein Saddam Hussein existiert, kein Pazifist“.

Ralph Giordano vollendet heute sein 80. Lebensjahr. Es ist die eigene Geschichte, die Geschichte der Verfolgung und der konsequenten Aufarbeitung vor allem deutscher und jüdischer Geschichte, die den Publizisten zu diesen Positionen treibt und auch sein stärkstes Argument ist.

Am 20. März 1923 wurde Ralph Giordano als Sohn eines Musikerehepaares – er aus Sizilien, sie deutsche Jüdin – in Hamburg-Barmbek geboren. Kaum hat Hitler 1933 die Macht ergriffen, bekommt der Zehnjährige zu spüren, was es heißt, einer „deutsch-jüdischen Mischehe“ zu entstammen. Die Pennäler des Johanneum werden in arische und nichtarische eingeteilt, von seinen Schulkameraden bekommt er zu hören: „Ralle, wir spielen nicht mehr mit dir, du bist Jude.“ Ein Mitschüler denunziert ihn bei der Gestapo, Verhöre und schwere Misshandlungen folgen.

„Wir spielen nicht mehr mit dir, du bist Jude“

1940 muss er das Humanistische Gymnasium verlassen. Es folgen Jahre der Flucht, der Furcht, des Hungers. Seine Familie wird 1943 ausgebombt, ein Jahr später muss er gemeinsam mit Bruder und Vater Zwangsarbeit im Kraftwerk Neuhof der Hamburgischen Electricitätswerke (HEW) leisten. Als seine Mutter im Februar 1945 deportiert werden soll, verstecken sich die Giordanos in einem Kellerloch, in dem es von Ratten wimmelt. Am 4. Mai 1945 werden sie – dem Hungertod nahe – von den Briten befreit. „Es ist eine Lebensphase, die alles geprägt hat, was ich danach getan habe“, weiß Giordano, „ein Erlebnis, von dem man sich nie wieder erholt“.

Nach dem Krieg tritt der 23-jährige Giordano der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei, die ihm als „tausendfach beschworener Hauptfeind des Faschismus“ als „seine natürliche politische Heimat erscheint“. 1957 tritt er wieder aus, um vier Jahre später in seinem Buch „Die Partei hat immer recht“ mit dem „Mechanismus des stalinistischen Systems“ abzurechnen. Die „Blindheit und Taubheit gegenüber den Stimmen, die die Schrecken des Stalinismus in alle Welt hinausgellten“, nimmt er sich bis heute übel. Doch „unverzeihlicher, als einen politischen Irrtum zu begehen, ist es, keine Konsequenzen aus ihm zu ziehen.“

Die Karriere des Fernsehdokumentaristen Giordano beginnt 1961 beim NDR. 1964 zieht er nach Köln und wechselt zum WDR, wo er bis zu seiner Pensionierung 100 Dokumentarfilme in aller Welt dreht. Sein Interesse gilt dabei den „Minderheiten, Schwachen und Verfolgten“. Als Fernsehautor verabschiedet sich der „löwenmähnige Feuerkopf“, (NDR-Intendant Jobst Plog) 1988 mit der Dokumentation „Der perfekte Mord - Wie die Nazirichter freigesprochen wurden“.

Ein „löwenmähniger Feuerkopf“

Bereits sechs Jahre zuvor ist Giordanos national und international größter publizistischer Erfolg erschienen, die – später auch verfilmte – Verfolgten-Saga „Die Bertinis“ (1982), in der er das Schicksal seiner eigenen Familie nachzeichnet. „An diesem Buch habe ich vom Januar 1942 an 40 Jahre lang jeden Tag entweder mental oder manuell gearbeitet“, betont Giordano. 1987 erscheint „Die zweite Schuld oder von der Last, ein Deutscher zu sein“, eine Auseinandersetzung mit der fehlenden Bewältigung des Nationalsozialismus in Deutschland. Es folgten 20 Bücher, die fast alle große Erfolge werden. Dazu zählen „Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte“ (1989), „Israel, um Himmels Willen Israel“ (1991), „Deutschlandreise“ (1998) sowie der literarische Reisebericht „Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr“ (2002), mit dem er zugleich zu seinen familiären Wurzeln zurückkehrt.

Einen Ruhestand hat es für den Pensionär nie gegeben. Er meldet sich zu Wort, ob es um die DDR-Vergangenheit und ihre (fehlende) Aufarbeitung, antisemitische Zungenschläge oder die Zukunft Israels geht. In den vergangenen Jahren ist Giordano auch von linken Intellektuellen oft kritisiert worden. Für seine Parteinahme für Israel, die die Massaker der israelischen Regierung an den Palästinensern zwar benennt, sie aber nach Meinung seiner Kritiker allzu schnell rechtfertigt und relativiert. Für seine Verunglimpfung der Friedensbewegung als antiamerikanistisch und unkritisch dem irakischen Regime gegenüber. Giordano hat Amerika als Befreier und als Verbündeter Israels erlebt, das irakische Regime als existentielle Bedrohung des „Judenstaats“: Daraus speist sich seine streitbare Parteilichkeit.

Giordanos Hauptthema aber ist immer der Kampf gegen den alten und neuen Faschismus und Rassismus geblieben: „Auf das größte geschichtsbekannte Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern folgte das größte Wiedereingliederungswerk für Täter, das es je gegeben hat“, beschreibt Giordano die „zweite Schuld“ der Deutschen. Heute warnt er vor Schill und allen rechtsintellektuellen „Rattenfängern“: „Wir müssen uns klar darüber sein, wer unter uns ist – schon wieder oder noch immer.“ Seit 1991 hat Giordano nach eigenem Bekunden 1300 Morddrohungen erhalten. Einem Anrufer, der ihm drohte „Du wirst nach Auschwitz kommen“, antwortete er: „Wieso Auschwitz? Ich denke, Auschwitz hat es gar nicht gegeben.“

Trotz Auschwitz habe er Deutschland nie ernsthaft verlassen wollen, betont Giordano: „Ich wäre mir wie ein Deserteur vorgekommen.“ Die kritische, liebende und auch mit Schrecken erfüllte Verbundenheit mit Deutschland korrespondiert mit einer engen Zugewandtheit zu der Stadt, die Giordano „mein Hamburg“ nennt. Bis heute ist Giordano, der sich als „in Köln lebender Hamburger Schriftsteller“ bezeichnet, seiner „Vaterstadt“ treu geblieben. Sie ist die Stadt seiner Kindheit, seiner Verfolgung, seiner Befreiung und auch seiner Gegenwart. In seinem Buch „Deutschlandreise“, in dem Kapitel „Hamburg – Ode an eine Vaterstadt“, schreibt er: „Die Nabelschnur dahin war nie durchschnitten worden und wird es, solange ich lebe, auch nicht sein. Keine andere Stadt wird je Gefühle in mir hervorrufen können, wie sie aufsteigen, wenn ich in Hamburg eintreffe.“ Giordano trifft ein, wann immer sich ihm ein Anlass bietet. Noch heute ist er Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Hamburg.

Giordano ist Hamburg immer treu geblieben

Zahlreiche Ehrungen hat Giordano erhalten, darunter das Bundesverdienstkreuz und viele Literatur- und Fernsehpreise. Derzeit arbeitet er an seiner Autobiographie. „Es wird ’Erinnerungen eines Davongekommenen’ heißen, denn ich bin auf mannigfache Weise davongekommen.“

Der Rückblick Giordanos auf sein bisheriges Leben fällt seiner Natur entsprechend kämpferisch aus: „Die Gesellschaft ist nicht so, wie ich sie haben möchte, und sie ist nicht so, wie die Rechten sie haben möchten. Wir ringen um die Seelen der Menschen – und das werde ich bis zu meinem letzten Atemzug tun.“