In Ölgewittern

Gore Vidal rechnet ebenso scharfsinnig wie polemisch mit George W. Bush und dessen kriegstreiberischer Politik ab

Noch ein Buch über den 11. September? Obendrein von dem ebenso brillanten wie polemischen Publizisten Gore Vidal, der bereits letztes Jahr in einem Buch mit der „Öl- und Erdgas-Junta von Cheney und Bush“ abrechnete?

Zu Recht. Denn Vidals neue Aufsatzsammlung unter dem Titel „Bocksgesang. Antworten und Fragen vor und nach dem 11. September“ ist keine billige verlegerische Reprise. Er ergänzt auch nicht die nach wie vor erstaunlich dünnen Fakten über den 11. 9. 2001, sondern befasst sich mit der neue Signatur der verheerenden US-Politik: „Ein halbes Jahrhundert haben wir zu viele Tyrannen unterstützt, zu viele demokratische Regierungen gestürzt.“

Vidals Essays behandeln die historischen Voraussetzungen dafür, dass es nur eines fürchterlichen Terroranschlags und eines offiziös orchestrierten Propagandafeldzugs bedurfte, um eine medial-demoskopisch manipulierte Mehrheit des amerikanischen Publikums zu Kriegswilligen zusammenzutrommeln. Klar ist für ihn: Dies geschah im Dienste offenkundiger ökonomischer Interessen und der Wiederwahlchancen eines Amtsinhabers, der mit den Ölinteressenten stärker verbandelt ist als jeder zuvor. Vidal, der als junger Mann freiwillig zur Armee ging, um gegen den Faschismus zu kämpfen, empört sich zudem über die telegene Inszenierung. Zumal für einen wie ihn, der sein Leben in einem archaischen Krieg riskierte, ist der relativ risikolose High-Tech-Krieg von Bush obszön.

Darüber hinaus zeigt Vidal in seiner messerscharfen Analyse, wie sich das amerikanische Volk und seine parlamentarischen Repräsentanten seit dem Koreakrieg zwei elementare Rechte Stück um Stück von der Exekutive entwinden ließen: die „ausdrückliche Hoheit“ des Kongresses über Krieg oder Frieden und die Kontrolle über die Budgets des Pentagons und der Geheimdienste. So geben die USA 22-mal mehr Geld für die militärische Rüstung und die weltweite militärische Präsenz aus als die sieben „desiginierten Schurkenstaaten“ zusammen. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschreibt Vidal überzeugend als systematische „Aushöhlung der Institutionen“ und die Konzentration von Macht in den elf US-Geheimdiensten, im Verteidigungsministerium und im „Augiasstall des Außenministeriums“.

Er weiß, wovon er redet: In den 60er-Jahren gehörte er zur machtnahen Gruppe von Kennedy-Beratern und -Redenschreibern. Auch hat er nicht vergessen, dass die CIA mit viel Engagement im Westen kritische Intellektuelle, sozialistische und gewerkschaftliche Oppositionelle bespitzelte oder in gekauften Propagandapostillen wie dem Monat diffamierte, statt die wirklichen Feinde von Demokratie und Rechtsstaat zu verfolgen.

Der Autor bemüht keine Verschwörungstheorien, sondern präsentiert Fakten: Japan wurde zum Überfall auf Pearl Harbor förmlich provoziert, um die 80-prozentige Front in der US-Bevölkerung gegen einen Eintritt in den europäischen Krieg aufzubrechen. Erst daraus entstand der Weltkrieg. Hiroschima und Nagasaki wurden mit Atombomben angegriffen, obwohl Japan schon besiegt war. Den Kalten Krieg hat weniger Stalin zu verantworten als die USA, die nacheinander die Abkommen von Jalta und Potsdam unterliefen und zielstrebig darangingen, Westdeutschland als „unsere deutsche Kolonie … wieder funktionsfähig zu machen, zur Militärbasis auszubauen und schließlich in unser westliches Europa zu integrieren“.

Bis 1989/91 diente die Nato dafür als ein wichtiger Hebel. Seither hat die imperiale Macht USA ihr substanzielles Interesse an der UNO ebenso verloren wie an der Nato, wenn man vom Nebeneffekt absieht, wie lukrativ die formelle Nato-Osterweiterung für die amerikanische Rüstungsindustrie werden kann und „wie ruinös die Nato-Zugehörigkeit für die neuen Mitgliedsstaaten sein wird“. Das Eintrittsbillett in die Nato werde von diesen Armenhäusern mit Rüstungsaufträgen bezahlt werden müssen. Es geht dabei nicht nur um eine politisch höchst fragwürdige Remilitarisierung des europäischen Ostens, sondern auch darum, dass die armen Beitrittsländer mit dem Zugang zum Militär-Club ihre ökonomischen und sozialen Zukunftschancen verpfänden.

Das Strickmuster ist nicht neu. Schon die inneramerikanische Opposition gegen imperiale Träume wurde seit den späten 40er-Jahren propagandistisch damit niedergewalzt, sie begünstige „den Osten“. Nachdem Präsident Truman am 13. Januar 1947 die „Politik der Eindämmung“ proklamiert hatte, meldete sich der ehemalige Vizepräsident Henry Wallace zu Wort und deutete die Selbstermächtigung korrekt dahin, „dass die USA“ fortan „an jeder Grenze zu Russland Polizei spielen“ wollten. Der „National Security Act“ (27. Juni 1947) sicherte genau diesen Anspruch nach innen ab, indem alle Beamten einen „Loyalitätseid“ schwören mussten. Auch davor warnte Wallace und galt von fortan als Kommunist oder Mitläufer Hitlers. Vidal zeigt sehr eindrücklich, wie Bushs Unilateralismus nichts anderes ist als die zeitgeistige Fortschreibung von Trumans Traum, „die ganze Welt zum Interessengebiet der USA“ zu erklären. Eine Tragödie – wörtlich übersetzt aus dem Altgriechischen –, ein Bocksgesang.

RUDOLF WALTHER

Gore Vidal: „Bocksgesang. Antworten auf Fragen vor und nach dem 11. September“. Aus dem Amerikanischen Kollektiv Druck-Reif. EVA, Hamburg 2003, 128 S., 13 €