Sterben ist teuer

Der Sozialstaat ist auf dem Weg „Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall“. Das zumindest glaubt Gabriele Metzler. Doch: Die Historikerin verirrt sich bei ihrem Ausflug in aktuelle Debatten

von ULRIKE HERRMANN

Was wird aus den deutschen Sozialversicherungen? „Künftig unfinanzierbar“, lautet die pessimistische Standarddiagnose. Ob Arbeitslosenversicherung, Renten, Krankenkassen oder Pflege: Überall wird zusammengestrichen. Wenig hoffnungsfroh ist auch die Historikerin Gabriele Metzler, die mehr als hundert Jahre deutscher Sozialgeschichte betrachtet hat. Ihr Ergebnis: Der Sozialstaat habe sich überlebt, sei ein „Pflegefall“.

Diese Analyse ist keinesweges originell, dennoch gelingt es Metzler, die gängige Perspektive historisch ein wenig zu verbreitern. So erfährt man etwa, dass manche Argumente, die uns neu vorkommen, schon im 19. Jahrhundert beliebt waren. Auch damals fürchteten die Unternehmer immer dann um ihre internationale Konkurrenzfähigkeit, wenn es galt, Ansprüche der Arbeiter abzuwehren. Nicht ganz unvertraut wirkt auch die Idee von Florian Gerster, dass sich künftig die Kommunen um die Langzeitarbeitslosen kümmern sollen und nicht mehr seine Bundesanstalt für Arbeit: Das entspricht zwar nicht der Rechtslage, aber der Mentalität des Kaiserreiches. Schon damals gab es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft der Ärmsten. Für die Vermittelbaren waren die „Arbeitsnachweise“ zuständig, für die Chancenlosen die Fürsorge der Gemeinden.

Metzler erinnert auch daran, dass Bismarck ursprünglich erwogen hat, eine steuerfinanzierte Altersversorgung einzuführen. Doch konnte er sich nicht durchsetzen, sodass der Reichstag 1889 das Versicherungsprinzip beschloss. Warum scheiterte Bismarck? Das hätte man gern detaillierter gewusst, denn es wird momentan immer wieder debattiert, ob Deutschland auf eine Steuerfinanzierung umstellen sollte. Doch Metzler sagt nichts zu den Gründen – sie begnügt sich mit dem Hinweis, dass das katholische Zentrum und die Linksliberalen eine Steuerfinanzierung nicht unterstützten.

Metzler hätte eine interessante Diskursgeschichte schreiben können, aber Debatten werden höchstens angerissen. So erfährt man zur Nachkriegszeit, dass in den Westzonen „im Gespräch“ war, die Sozialversicherungen komplett zu reformieren. „Gleichwohl ließen sich tiefgreifende Reformen gegen den Widerstand der involvierten Interessen nicht durchsetzen.“ Aha. Nur: Widerstand wie? Interessen von wem?

In den letzten Kapiteln wagt sich Metzler dann weit vor – und äußert sich zur Gegenwart. Das ist für Historiker immer riskant, da sie dann die Reichweite ihrer Methoden stark überdehnen. Dennoch ist dieser Mut anzuerkennen: Schließlich hofft das Publikum, dass sich aus der Geschichte für die Zukunft lernen ließe. Allerdings scheitern viele Historiker bei dieser Reise ins Aktuelle; ihre Einsichten können nur selten mit den systematischen Analysen von Ökonomen oder empirischen Sozialforschern konkurrieren.

So ist es leider auch bei Gabriele Metzler. Ihre Betrachtungen zur gegenwärtigen Krise des Sozialstaats reichen über die gängigen Stichworte nicht hinaus. Pflichtgemäß erwähnt sie die Globalisierung, den demografischen Wandel und das Ende der Vollbeschäftigung. Aber diese Aspekte bleiben so unverbunden wie meist in der aktuellen Diskussion. Da wird der Geburtenrückgang problematisiert, aber nicht gründlich dargestellt, wozu der vermisste Nachwuchs denn gebraucht werden könnte, da doch auch künftig Arbeitsplätze fehlen werden. Zudem drängt sich der Eindruck auf, dass Metzler die Forschungsergebnisse in den Nachbardisziplinen nicht verfolgt. So geht sie selbstverständlich davon aus, dass die Gesundheitsversorgung teurer wird, weil die Gesellschaft altert. Doch zeigen Studien, dass Altern und Ausgaben nicht zusammenhängen. Die meisten Krankheitskosten fallen kurz vor dem Tod an – egal, wie lang der Mensch gelebt hat.

Zudem kann sich Gabriele Metzler nicht von der deutschen Wissenschaftsprosa lösen. Ein Stilbeispiel, das typisch ist: „Der Sozialstaat erscheint als elementarer Bestandteil eines weit umfassenderen Modernisierungsprozesses. In der Tat war er nicht bloß Folge von Modernisierung, sondern in ihm drückten sich Spezifika der Moderne in besonderer Form aus.“ Bei solchen Passagen hofft die Leserin, dass sich auch die deutschen Akademiker bald „spezifisch modernisieren“ – und endlich von ihren britischen und amerikanischen Kollegen lernen, die sich alle bemühen, anschaulich und lebensnah zu schreiben.

Gabriele Metzler: „Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall“. DVA, Stuttgart 2003, 220 S., 22,90 €