Kapitän der Kapitäne

Erik Zabel soll nicht mehr länger nur Sprints für das neue All-Star-Team von Telekom gewinnen, sondern künftig die Mannschaft führen. Am Samstag bei Mailand–San Remo kann er schon mal üben

aus Mailand SEBASTIAN MOLL

Sich mit Erik Zabel in Ruhe zu unterhalten, das war in den vergangenen drei Jahren – seinen erfolgreichsten – kaum möglich. Der Radprofi war permanent gehetzt, von den ersten Rennen der Saison im Januar auf Mallorca bis zur Lombardei-Rundfahrt im Oktober; im November kreiselte er dann durch deutsche Sechstagehallen, und im Dezember begann er schon wieder mit dem ersten Trainingslager zur Vorbereitung der kommenden Saison.

Er war ein Getriebener. Er konnte wie unter Zwang keine Gelegenheit auslassen, sein Vorderrad ein Stückchen vor allen anderen über irgendeine Ziellinie dieser Welt zu schieben.

Die laufende Saison ist nun schon zwei Monate alt, aber Erik Zabel hat gerade erst einen einzigen Spurt gewonnen, bei der Murcia-Rundfahrt im Februar. Bei der Fernfahrt Tirreno–Adriatico, der traditionellen Vorbereitung auf Mailand–San Remo, dem ersten Weltcuprennen der Saison am Samstag, musste er sich zweimal Weltmeister Mario Cipollini geschlagen geben. Zabels einstiger großer Rivale Cipollini gilt auch als uneingeschränkter Favorit für Mailand–San Remo, jenes Rennen, das Zabel zwischen 1997 und 2001 viermal gewonnen hat. Und doch ist Zabel ruhig. Am Abend einer Etappe von Tirreno–Adriatico, in einem Hotel irgendwo zwischen den beiden italienischen Meeren, sitzt er auf der Massagebank und plaudert über die Dinge, auf die es im Sport und im Leben ankommt.

Er habe immer versucht erfolgreich zu sein, sagt Zabel zum Beispiel, manchmal mit der Brechstange. Dadurch, so der 32-Jährige, habe er sich selbst in eine Situation gebracht, in der das Siegen die Norm und alles andere eine Enttäuschung war. Herausgekommen sind: Der Weltcupgesamtsieg 2001, fünfmal das grüne Trikot bei der Tour de France, Weltranglistenerster 2002, insgesamt 170 Profisiege seit 1993. Dabei habe er verlernt, erkennt er jetzt, dass der Erfolg etwas Besonderes sei, die Ausnahme – und nicht die Regel. Deshalb sei ihm auch der Spaß am Radsport abhanden gekommen. „Und wenn man keinen Spaß mehr hat, kann man diesen Beruf nicht ausüben.“

Jetzt habe er jedoch erkannt, sagt Zabel, dass es am Ende einer Laufbahn nicht darauf ankomme, ob man 20 Rennen mehr oder weniger gewonnen hat, sondern darauf, was man erlebt und gelernt hat. Teil einer Mannschaft zu sein etwa, das, so Zabel, sei eine dieser bleibenden Erfahrungen. Und um diese Erfahrung wieder in den Vordergrund zu stellen, hat Zabel für die neue Saison eine neue Rolle übernommen. Er ist beim Team Telekom nicht mehr der, für dessen Siege sich alle anderen ins Zeug legen und verschleißen. Stattdessen will er einmal „mehr geben als nehmen“. Anstatt selbst um jede Häuserecke zu spurten, soll Zabel in Zukunft als verlängerter Arm der Mannschaftsleitung im Feld das Team koordinieren und taktische Entscheidungen treffen. Seine Erfahrung und sein feinsinniges taktisches Gespür sollen nicht mehr nur ihm selbst, sondern allen zugute kommen.

Der Samstag ist für Zabels neue Zurückhaltung die erste große Bewährungsprobe. Er hat Mailand–San Remo in den vergangenen Jahren durch seinen persönlichen Stil geprägt, hat verändert, wie der fast 100 Jahre alte italienische Klassiker heutzutage gefahren wird. Jetzt soll er sich, wenn es die Mannschaftsraison gebietet, in den Dienst anderer stellen. Etwa von Alexander Winokurow, der gerade Paris–Nizza gewonnen hat. Oder von Daniele Nardello, den Klassikerspezialisten, den Teamchef Walter Godefroot neu in die Mannschaft geholt hat. Nur so, glaubt Zabel – also mit drei Spitzen und einer variablen Strategie – kann man Cipollini beikommen, dem Mann, der seit Mailand–San Remo im vergangenen Jahr auf schier unerschütterliche Weise die Sprintszene dominiert.

Als Cipollini im vergangenen Jahr auf der Via Roma von San Remo triumphierte, kam Zabel nach einem Sturz verbittert und mit Minutenrückstand ins Ziel. Es war das Fanal zu einer Saison, an deren Ende sich der Berliner vom erfolgsbesessenen Egozentriker zum besonnenen Elder Statesman gewandelt hatte.

Zwar hatte Zabel auch 2002 wieder 18 Siege gesammelt und führte die Weltrangliste an. Es blieb jedoch die Erfahrung, dass er bei den großen, prestigeträchtigen Sprints meistens geschlagen wurde: bei der Tour de France von Robbie McEwen, bei der WM von Mario Cipollini.

Die Erfahrung hat sicherlich Zabels neue Gelassenheit gefördert. Da passte es gut, dass das Team Telekom nach den großen Umwälzungen der vergangenen Saison dringend einen echten Kapitän braucht. Nach der Demise von Jan Ullrich hat Walter Godefroot ein multinationales All-Star-Team zusammengekauft. Bei der Tour de France beispielsweise will Telekom nicht wie bis dato mit einem, sondern gleich mit drei Mann – Santiago Botero, Paolo Savoldelli und Cadel Evans – Lance Armstrong fordern. Und um die Bemühungen dreier Fahrer aus drei Ländern, die vorher alle Kapitäne waren, zu koordinieren, brauchte Godefroot einen Mann im Feld, der Autorität und Routine ausstrahlt. Die Aussicht, als Stratege und Lenker das zu tun, was Ullrich nicht gelang, nämlich Armstrong ins Wanken zu bringen, gefiel Zabel. Nicht nur dem neuen, altersweisen Zabel, sondern mit Sicherheit auch dem Erfolgsmenschen.