Rechtsanspruch auf Couchplatz

Psychisch kranke Straftäter müssen nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm therapiert oder freigelassen werden. Die Landesregierung ist nun unter Druck: Forensik-Kliniken sind überbelegt

VON KLAUS BRANDT

Ein Richterspruch hat die schon jetzt prekäre Situation der Unterbringung psychisch kranker Straftäter in Nordrhein-Westfalen drastisch verschärft. Danach müssen verurteilte psychisch kranke Straftäter freigelassen werden, wenn für sie nicht zeitnah Therapieplätze in einer forensischen Klinik zur Verfügung stehen.

Die Richter des 4. Strafsenats des Oberlandesgerichts (OLG) in Hamm entschieden in einem Grundsatzbeschluss zum so genannten Maßregelvollzug, dass die bisherige Praxis der Vollstreckungsbehörden, psychisch kranke und suchtkranke Straftäter in normalen Gefängnissen unterzubringen, bis ein Therapieplatz frei wird, rechtswidrig sei.

Der Senat stellte fest, dass ab sofort die seit Jahren andauernde Überbelegung in den forensischen Klinikeinrichtungen nicht mehr als Ausnahmetatbestand gelte, um solche „Warteschleifen“ im Regelvollzug zu legitimieren. Damit ist die Organisationshaft, die sich wegen ungelöster Kapazitätsprobleme quasi als selbstverständlich eingebürgert hat, für das OLG unzulässig.

Die Strafrichter am OLG rücken in ihrem Leitsatz ausdrücklich von einer früheren Recht-sprechung ab. Bisher wurde bei fehlenden Plätzen in den forensischen Kliniken eine Organisationshaft bis zu drei Monaten erlaubt. Eigentlich sollte dies nur eine Übergangslösung sein, um den Notstand im Maßregelvollzug zu beseitigen. Das OLG hatte vor 20 Jahren die Organsiationshaft mit dem deutlichen Hinweis gebilligt: „Die Kapazitätsprobleme des Maßregelvollzugs haben sich seit Jahren abgezeichnet, so dass ihre organisatorische Bewältigung jetzt oder in allernächster Zukunft erwartet werden muss.“

Deshalb ist die bis heute praktizierte Haftpraxis „des bloßen Zuwartens auf einen freiwerdenden Therapieplatz“ für die OLG-Richter rechtlich nicht mehr verantwortbar. Der Verurteilte dürfe nicht darunter leiden, dass Länder ihren Verpflichtungen zur praktischen Vollstreckbarkeit von Strafurteilen nicht nachkommen.

Zugleich beschrieb der 4. Strafsenat, was in Zukunft möglich ist: Eine verlängerte Haft im normalen Vollzug ist nach Auffassung des OLG nur noch für die Zeit möglich, in der technische Fragen gelöst werden müssen, wie zum Beispiel der Transport. Für das NRW-Gesundheitsministerium ändert sich mit dem Urteil nichts – obwohl wegen des chronischen Platzmangels im speziell gesicherten Maßregelvollzug die Organisationshaft regelmäßig voll ausgeschöpft worden ist. Kai von Schoenebeck, Sprecher des Ministeriums, sagt: „Es ist ausgeschlossen, dass psychisch kranke Straftäter auf freien Fuß kommen.“ Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug, Uwe Dönisch-Seidel, habe unmittelbar auf die neue Rechtslage reagiert und Vorkehrungen für diese Problemfälle getroffen.

Im Maßregelvollzug werden Straftäter grundsätzlich vor Verbüßung einer meist langjährigen Freiheitsstrafe behandelt, die von Gutachtern als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig eingestuft worden sind und die an psychischen Erkrankungen, Psychosen und schweren Persönlichkeitsstörungen leiden. Außerdem werden hier drogen- und alkoholkranke Straftäter zur Entziehung untergebracht.

Durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts in Hamm steht die NRW- Landesregierung nun unter enormem Druck.