Pragmatismus gegen die ermüdende Einsamkeit

Packend, modern und psychologisch fein sezierend: Stefan Kimmigs absolut sehenswerte Inszenierung von Goethes „Stella“ aus Berlin gastierte am Hamburger Thalia Theater

Die Liebe quält, sticht, vernichtet. Zu sehr liebende Frauen, die dem einen alles geben – und alles verlieren. Bindungsunfähige Männer, die zwar lieben wollen, aber nicht anders können, als das Weite zu suchen. „Erst betrügen sie sich selbst. Dann betrügen sie uns“, resümiert Cäcilie bitter. Goethes Stella ist ein Schauspiel für Liebende. Und könnte doch auch einen modernen Großstadtroman erzählen. Mit lauter verhärmten Singles.

Thalia-Regisseur Stephan Kimmig hat hierzu eine absolut sehenswerte Fassung am Deutschen Theater in Berlin herausgebracht. Für zwei Abende kamen jetzt die Hamburger in den Genuss des Gastspiels.

Cäcilie, Tochter Lucie und Stella blicken ratlos vom Bühnenrand. Reden durcheinander. Ohrfeigen sich selbst. Wofür? Zuviel Liebe, hingegossen an einen Mann, der sich zu entziehen wusste. Stella, die nach Jahren verschmähte, einst blühende Geliebte, ließ er zurück. Eine kraftvolle Petra Hartung steht da im bodenlangen Kleid von Kostümbildnerin Anja Rabes. Sie ist die Herrscherin in Katja Haß’ klaustrophobischer U-Boot-Behausung mit runden Türen und pastellfarbener Stofftapete. Dem drückenden Alleinsein versucht Stella mit Handarbeitsunterricht zu entfliehen. Und der Erinnerung an Fernando, mit dem sie fünf Jahre gelebt hat. Und auch der an das gemeinsame, nicht lebensfähige Kind.

Stephan Kimmig erweist sich wie in seinen Hamburger Arbeiten Nora und Lantana auch diesmal als feinnerviger psychologischer Sezierer. Er spitzt den Klassiker zu. Ohne ihm die großen Gefühle zu rauben. Ringt der Tragödie sogar subtile Komik ab. Wie Freddy Frinton im 90. Geburtstag stolpert die Postmeisterin, Inka Friedrich, über eine nicht vorhandene Schwelle. Noch mehr Ticks lebt die frisch angereiste Cäcilie (Corinna Harfouch) aus. Die einst von Fernando für Stella verlassene Gattin gibt sich gänzlich ihrer Hysterie hin. Versalzt ihr Essen, um sich darauf lautstark zu beschweren. Eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Da geschieht das Unvermeidliche. Der treulose Fernando taucht auf. Als bemitleidenswerter Schwächling rennt Sven Lehmann wie ein Tier im Käfig von einer zur anderen. Beide Frauen verließ er. Beide verfolgen ihn in seinen Träumen.

Nach und nach enthüllt Kimmig das schicksalhafte Zusammentreffen. Wie alle Figuren sich hin- und hergerissen in ihrer Ausweglosigkeit umeinander winden, ist eine wahre Pracht. Doch wo ist der Ausweg? Ein Doppelselbstmord wie in Goethes nachgereichter Fassung? Oder seine ursprünglich geplante Ehe zu dritt?

Bei Kimmig entscheidet sich der Mann nicht. Er überlässt es den starken Frauen, die Situation zu lösen. Und die bringen für ihn noch nicht einmal Hass auf. Paralysiert hocken alle drei auf Kinderstühlen. Fernando hat schon die Pistole im Anschlag, aber selbst zum Freitod ist er zu feige. Sie bleiben alle zusammen. Nicht als Glücksutopie einer betrügerischen „Liebeskommune“, sondern als pragmatischer Ausweg aus ermüdender Einsamkeit und lebenslangem Weiterleiden. Ein bedrückendes, zeitloses Schlussbild einer packenden Inszenierung. Caroline Mansfeld