berliner szenen Die Liebe kommt

Die Liebe geht

Es war Sonntagabend. Am U-Bahnhof Uhlandstraße stand ein Musiker mit Gitarre an der Tür im letzten Wagen der U-Bahn. Er sah frisch gewaschen aus, war vielleicht Mitte zwanzig und seine Kleidung bestand aus Brauntönen. Er sang Lieder in deutscher Sprache, die von Liebe, Freiheit und Widerstand handelten und etwas Balladenhaftes hatten. Das gesungene Ich „träumte, du wärst bei mir“, und wünschte sich, „dass es Gott gibt und nie wieder Krieg“. Kurz vorm Wittenbergplatz hieß es, „die Menschen sind zu beneiden / solange die Menschen Menschen bleiben“ und „Liebe – sie kommt und sie geht / Liebe so schnell verweht.“

Es war ein bisschen peinlich. Manche schauten nach oben oder besonders konzentriert in die Zeitung. Die Zeit fühlte sich länger an als auf der Uhr. Es war auch nicht ganz klar, ob es sich um ein einziges, ausuferndes Stück mit ein, zwei Melodiewechseln oder um mehrere handelte. Irgendwann riss eine Saite und der Liedermacher beendete seinen Auftritt mit einem entschlossenen: „Nie wieder Krieg! Fuck off, Bush!“ Einige gaben ihm was, andere nicht. Der Sänger wurde von einer Frau abgelöst, deren Gesicht etwas Apfelhaftes hatte. Sie wirkte wie eine Junkiefrau, die aber schon in Behandlung ist. Ihre Stimme leierte ein bisschen. Sie heiße Erika, habe drei Kinder und leider keine andere Möglichkeit als in der U-Bahn um Geld zu bitten. „Ich würde mich freuen über ein paar Cents oder ein paar Euros.“ Diesen Satz wiederholte sie dreimal, vielleicht um ihren Sätzen etwas Liedhaftes zu geben, vielleicht um sich während der Wiederholung an die nächsten Sätze besser erinnern zu können. Außerdem sprach sie das „Cents“ französisch aus, mag sein, um Kultur anzudeuten. Niemand gab ihr was. DETLEF KUHLBRODT