: Kredit und Credo
Ist der Kapitalismus eine Religion? Das Publikum jedenfalls glaubt an ihn und treibt den Götzenkult
Der Wittener Soziologe Dirk Baecker gehört längst zu den originellsten Theoretikern der Bundesrepublik. Ohne falsche Scheu äußerst er sich auch zu scheinbar Nebensächlichem – etwa dem Dosenpfand. Nun ist er als Herausgeber des Bandes „Kapitalismus als Religion“ hervorgetreten. Damit wird an zweierlei angeknüpft: an die in einer breiten Öffentlichkeit bekannten Jeremiaden über den Kult des Kommerzes einerseits; andererseits an die geistesgeschichtlichen Debatten über Walter Benjamins bedeutendes Fragment „Kapitalismus als Religion“ aus dem Jahre 1921.
Benjamin hatte formuliert, „im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“. Er sei eine „essentiell religiöse Erfahrung“.
Benjamin wendet sich damit implizit gegen die von Max Weber angestellten Studien über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, gegen seinen Schluss, der Kapitalismus werde durch protestantische Ethik begünstigt oder bedingt. Benjamin macht keine Ableitungen dieser Art, er redet auch nicht über Analogien: Er behauptet eine Identität.
Indizien finden sich genug, etwa die erstaunliche Nähe finanztechnischer und theologische Begriffe: Kredit und Credo, Erlös und Erlösung, Gläubiger und Glauben, Offenbarungseid und Offenbarung. Darauf und auf die „Verheißung des absoluten Reichtums“ durch das Geld, nach einem Marx-Wort der „Gott der Waren“, weist der Tübinger Soziologe Christoph Deutschmann in dem Band hin.
Gewiss hat die gesamte Fragestellung etwas Paradoxes: Seit jeher wurde im Kapitalismus ja gerade eine Kraft der Rationalisierung gesehen, die allem Religiösen feindlich sei. Und doch hat der Kapitalismus seine Hohepriester und produziert stetig seine Mythen: „lean production“, „total quality control“, „business reengineering“ und Ähnliche. Die Heilsverheißung kapitalistischer Globalisierung erinnert nicht nur entfernt an den bekannten Messianismus jüdisch-christlicher Tradition.
Die kultische Inszenierung am Markt, auf dem Lebensstile, Weltbilder und damit Waren verkauft werden, erweist die Aktualität des Benjamin’schen Fragments, meint denn auch Norbert Bolz, der selbst eben erst mit seinem „Konsumistischen Manifest“ hervorgetreten ist. Die Gesellschaft „glaubt an den Kapitalismus“, ergänzt Herausgeber Baecker: „Sie glaubt, dass er ihr Schicksal ist.“
Viel weiter vor in das verminte Feld will er sich freilich nicht begeben. Mit einer Geste intellektuellen Heroismus umgeht er die Frage nach der „Identität“ von Kapitalismus und Religion, die von Benjamin noch behauptet wurde. Allein der „Verdacht, dass der Kapitalismus eine Religion ist“, sei als „eine Konstruktion zu würdigen, die bestimmte Dinge sichtbar macht“. Gerade die Sammlung der Indizien, die Entdeckung von Analogien und Ähnlichkeiten lässt die Dinge mit wachsender Unentschiedenheit klarer werden, formuliert Baecker. Man fühlt sich bei dieser Wortwahl ein wenig an die Säkularisierungsdebatte erinnert, wie sie vor 30 Jahren von Hans Blumenberg, Karl Löwith, Carl Schmitt und anderen geführt wurde: Damals ging der teils heftige Streit darüber, was der Umstand zu bedeuten habe, dass moderne Institutionen oder Gedanken als Säkularisate religiöser Hierarchien oder Vorstellungen interpretiert würden.
Der Blick auf die religiösen Grundierungen kapitalistischer Praxis und Rhetorik zeigt das Irrationale jener Wirtschaftsform, die sich fest auf dem Boden des Rationalen wähnt. Das ist nicht wenig – aber wohl doch nicht das, was Benjamin im Sinn hatte. „Kapitalismus als Religion“ ist also ein höchst aktueller Reader zu einem sehr alten Problem, das wohl nie endgültig gelöst wird.
ROBERT MISIK
Dirk Baecker (Hg.): „Kapitalismus als Religion“. 314 Seiten, Kadmos-Verlag, Berlin 2003, 22,50 €