Gänsemett, Gänsegulasch, Gänsebrust

Wenn polnischer Braten nicht in Berliner Kühlschränke passt, muss der Bauer alles selbst essen

Die taz-Serie „Die Agronauten“ fragt: Sind auch Sie bereit fürs Land? In Folge 4 berichten Anne und Marek von „Urban Art“ über ihre Nachbarn, sie leben gleich hinter Küstrin auf einem polnischen Hof, dessen Postanschrift „Versenkung Nr.4“ lautet.

130 km von Berlin entfernt, in Polen, gibt es noch jede Menge kleine Bauernhöfe mit weniger als 8 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche. Auch jetzt noch, kurz vor dem EU-Beitritt. Die meisten Bauern klagen, besonders weil die Regierung es sich abgewöhnt hat, Agrarprodukte zu festen Preisen anzukaufen.

Seitdem gibt es im Sejm, dem Parlament, eine Bauernpartei, die sich „Selbstverteidigung“ nennt und von einem vierschrötigen Populisten angeführt wird, dessen Hof schon EU-subventionstauglich umgerüstet ist. Die „Selbstverteidigung“ führt in der Erntezeit, wenn die Regierung billigen und besseren Weizen aus Kanada importiert, Protestaktionen durch: Straßenblockaden, wüste Beschimpfungen und Handgemenge im Sejm. Unser Nachbar jammert den Tagen des Kriegsrechts hinterher, als die kleinen Bauern quasi das Überleben Polens sicherten, weil alle anderen Betriebe streikten oder nichts mehr produzierten. In dieser Zeit konnte unser Nachbar innerhalb von zwei Jahren mit 5 ha Rüben einen nagelneuen Ursus-Trecker erwirtschaften. Leider kam diese Zeit nie wieder. Aber den Ursus hat er heute noch, der Trecker ist fast 25 Jahre alt. Letztes Jahr kaufte unser Nachbar 20 Gänse. Im Frühjahr sah man ihn die ganze Zeit mit einem Stock hinter den gelben Kücken hergehen. Der Arzt hatte ihm nach einem Herzinfarkt regelmäßige Bewegung empfohlen. Außerdem sollte er seine Ernährung umstellen. Das war auch nötig. Wir waren mal bei ihm und seiner schwergewichtigen Frau zum Sonntagsessen eingeladen worden. Zuerst gab es einen tiefen Teller voller selbst gemachter Nudeln, der mit Hühnerbrühe aufgefüllt wurde und in der das Wasser zwischen dem Fett die Äuglein bildete. Im zweiten Gang folgte der Rest der Hühner in Form von gebratenen Keulen, Flügeln und Brüsten. Danach einen Nachschlag mit Koteletts und Butterkartoffeln. Als Beilage wurde grüner Salat gereicht, der in süßer Sahnesauce schwamm. Zum Abschluss löffelten wir Kompott. Dabei sackte unser Blut vom Kopf in den Magen, wir saßen nur noch stumm da und starrten dumpf vor uns hin. Zur Aufmunterung wurde Kaffee und Kuchen aufgetischt. Während der Nachbar also noch seine Gänse hütete, hatten wir schon vielen Berliner Freunden von den leckeren Weihnachtsgänsen aus ökologischer Freilandhaltung berichtet. Es sah wirklich sehr friedlich aus, wie unser Nachbar die Gänse davor bewahrte, auf die Straße zu laufen und sie stattdessen auf saftige grüne Wiesen trieb. Ich glaube, ihm selber machte es auch Freude, noch mal wie ein kleiner Junge, den Gänsen beim Gänsemarsch zuzusehen. Leider wurden unsere Pläne, seine Gänsewirtschaft durch die Vermittlung von Gänsebratenessern im großem Stil zu retten, zunichte gemacht. Der Frost kam früh, und man hätte zufüttern müssen. Die Gänse hätten sonst ihr Gewicht verloren. Von einem Tag auf den anderen schlachtete unser Nachbar kurzentschlossen alle Gänse. Es macht auch weniger Arbeit, wenn alle auf einmal gerupft werden. Leider wollten unsere Freunde nicht schon im Oktober mit Weihnachtsgänsen beliefert werden, zumal solch eine dicke polnische Gans nicht in ein kleines Drei-Sterne-Kühlfach passt. Auch sind gefrorene Gänse irgendwie nicht so ökologisch wie frische. Nun hatte aber der Bauer ein logistisches Problem, denn auch in seine Tiefkühltruhe passten keine 20 Freilandgänse. Deswegen kochte seine Frau Gänsewurst im Darm und im Glas, Gänsemett, Gänsegulasch, Gänsebrust, gern auch kalt zum Frühstück, Gänseschmalz mit und ohne Grieben und jede Menge Gänsebraten. Bis Weihnachten waren alle Gänse verzehrt. Zu Weihnachten essen die Polen als gute Katholiken sowieso kein Geflügel, sondern Karpfen, der als Fastenspeise gilt. Nun sind unsere Nachbarn noch wohlgenährter, aber sie müssen sich was Neues überlegen, um gut über den Winter zu kommen.

PROTOKOLL: HELMUT HÖGE