: „In den Damen steckt viel Kreativität“
Die Sylter Bäuerin Inge Dethlefs wagte ein Experiment: In einem Pflegeheim malt sie in ihrer Freizeit mit Dementen, weil sie herausfinden wollte, ob sich Menschen mit Farben ausdrücken können, die nicht mehr wissen, wie sie eigentlich heißen. Sie können es – zur großen Irritation ihrer Verwandten
INTERVIEW ULRIKE HERRMANN
taz: Frau Dethlefs, Sie sind Biobäuerin auf Sylt und haben im Alter angefangen, als Kunsttherapeutin im Pflegeheim zu arbeiten. Warum?
Inge Dethlefs: Ich selbst habe immer gemalt – und ich wollte herausfinden, ob Demente vielleicht mit Farben ausdrücken können, wofür ihnen längst die Worte fehlen. Ich wollte wissen, ob auch Menschen malen können, die nicht mehr wissen, wie sie heißen.
Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Es war auch schlechtes Gewissen dabei. Meine Schwiegermutter hat viereinhalb Jahre hochbetagt und völlig verwirrt bei uns auf dem Hof gelebt. Sie war wie eine Pflanze, immer fröhlich. Sie hat nicht gelitten. Aber heute werfe ich mir vor, dass ich mir nicht die Mühe gemacht habe herauszufinden, welche Kreativität noch in ihr war, die darauf wartete, geweckt zu werden. Das war ein Versäumnis.
Sie malen mit alten Frauen, die noch nie mit Farben umgegangen sind. Wie bewegen Sie die Dementen, einen Pinsel anzufassen?
Man muss die alten Damen bestechen. Ich baue bunte Blumen vor ihnen auf und frage sie dann, ob sie nicht daran riechen und die Blüten befühlen wollen? Das wollen die alten Damen immer.
Und dann malen sie?
Es gibt auch Frauen, die partout nicht malen wollen. Besonders eine Dame ist grundsätzlich gegen alles. Sie behauptet, die Blumen würden stinken, oder sie weist mich sofort darauf hin, wenn ich etwas vergessen habe. Ich finde das super! In dieser Frau ist noch so viel Widerstand, so viel Leben. Natürlich war sie Zeit ihres Lebens eine Zicke, aber trotzdem tut das gut. Sie ist noch klar im Kopf. Alle anderen sind dement. Die meisten reden gar nicht oder wenig. Es ist sehr still am Tisch, wenn nicht der blöde Fernseher läuft.
Gibt es noch andere schwierige Fälle – alte Frauen, die Sie an den Rand Ihrer Kräfte bringen?
Eine Dame hat Alzheimer und ist sehr unruhig. Sie redet die ganze Zeit immer das Gleiche. „Ich muss mal zur Toilette. Wo ist die Toilette? Wie spät ist es? Wo ist die Schwester?“ Ich gebe auf jede Frage prinzipiell eine Antwort. Sie ist eine sehr niedliche Dame, aber hinterher bin ich total geschafft. Nur wenn sie malt, ist sie relativ ruhig. Aber sie will, dass man dann ununterbrochen bei ihr ist. Wenn es ganz schlimm ist, fang ich einfach an, Lieder zu singen, die sie aus ihrer Jugend kennt. Und so reduziert sie ist – singen kann sie. In der Zeit redet sie wenigstens nicht. Aber sie ist einfach zauberhaft.
Manche der Bilder sind fast schon Kunst. Nie würde man denken, dass Demente sie gemalt haben.
Ich bin auch immer wieder erschlagen, wie vital und sinnlich die Arbeiten der alten Damen sind, obwohl sie oft nicht mehr reden können. Seit zwei Monaten arbeite ich mit einer 87-jährigen Frau, die einen Schlaganfall hatte und fast nichts mehr sehen kann. Nur noch schwarz-weiß-Kontraste. Also bringe ihr eine Flasche Fliederbeersaft mit, der ist ja ganz dunkel. Dabei entstehen graphische Blätter, das ist so hinreißend, das ist so toll! Oder ich habe ihr Margariten geschenkt, damit sie weiße Blumen auf schwarzem Grund malen kann. Dann habe ich mit ihr „Er liebt mich, er liebt mich nicht“ gespielt. Was sie aus ihrer Jugend kennt. Sie war so glücklich, es ist ein solcher Erfolg. Das lässt mich auch zu Hause nicht los.
Was sagen eigentlich die Angehörigen, wenn die alten Mütter plötzlich malen?
Für die Familien ist es oft irritierend zu entdecken, dass die alten Damen so talentiert sind. Viele wissen mit den Bildern nichts anzufangen und wollen sie auch nicht mitnehmen, wenn eine der Malerinnen gestorben ist. Manche Angehörige nehmen das nicht richtig ernst. Zum Beispiel kann ich es gar nicht leiden, wenn Verwandte sich hinter dem Rollstuhl von „Oma“ aufbauen und ihr sagen, wie sie malen soll. Die Angehörigen sollen einfach den Mund halten und an einem anderen Tag wiederkommen.
Und wie reagieren Ihre Bekannten darauf, dass Sie Ihre Freizeit als Kunsttherapeutin im Pflegeheim verbringen?
Ich erzähle es nicht jedem. Ich kann es nicht ertragen, wenn sie mich fragen: „Warum mutest du dir das zu?“ Und so reagieren sehr viele Leute. Das finde ich furchtbar. Alte Menschen sind doch keine Zumutung. Der Fehler liegt aber bei mir, weil ich offenbar nicht richtig vermitteln kann, wie viel Freude ich mit den Alten habe. Aber ich bin auch ambivalent. Zum Beispiel möchte ich nicht, dass meine Kinder mich später pflegen. Also empfinde ich mich selbst dann doch als Zumutung. Ich bin auch zu eitel. Ich würde nicht wollen, dass meine Kinder mich in Windeln sehen. Das sollen dann ausgebildete Pfleger machen, die Geld dafür bekommen, die keine emotionale Bindung an mich haben und keine gemeinsame Biografie.
Müssen es immer professionelle Pfleger sein? Kürzlich gab es den Vorschlag, dass auch Hartz-IV-Empfänger in den Heimen aushelfen sollen.
Das ist eine wunderbare Idee! Aber die Arbeitslosen müssten natürlich anständig bezahlt werden. Sie könnten mit den Alten singen, sie streicheln, ihnen zuhören, sie zum Reden bringen, nachfragen. Sie könnten Biografiearbeit machen. Alle Frauen haben Fotoalben in ihren Zimmern, aber niemand guckt sie mit den alten Damen an. Dabei ruft das so viel wach bei den Frauen, auch wenn sie sich nicht mehr ausdrücken können. Ich sehe das schon vor mir, wie ein Hartz-IV-Empfänger zwischen zwei alten Frauen sitzt und sich mit ihnen beschäftigt. Das würde jeden in diesem Trio verändern. Der Arbeitslose wäre gezwungen zu beobachten, er käme aus seinen eigenen Problem raus. Das schult das Einfühlungsvermögen.
Aber der öffentliche Widerstand war enorm gegen die Idee, Hartz-IV-Empfänger in die Heime zu schicken.
Damit werden die Arbeitslosen unglaublich diffamiert. Auch in der taz gab es einen Leserbrief nach dem Motto: „Jetzt lassen sie auch noch Hartz-IV-Empfänger auf die Alten los.“ Als würde eine Meute losbrechen. Natürlich müsste man die Arbeitslosen vorbereiten. Aber es ist doch ein tolles Gefühl, gebraucht zu werden. Und am besten wären junge Männer. Darauf fahren die alten Damen besonders ab.
Immer wieder wird ein „Pflegenotstand“ beklagt. Werden die Alten vernachlässigt?
Rein körperlich werden die Alten gut versorgt. Aber es fehlt an Zuwendung. Das können übrigens auch Tiere übernehmen. In jedes Heim gehören Hunde und Katzen. Seit einiger Zeit bringe ich meinen wuscheligen Schelty mit, der sehr viel Fell hat. Außerdem ist er klein, man kann keinen großen und dunklen Hund mit ins Pflegeheim nehmen. Da würden die alten Damen Angst bekommen. Aber so ein kleiner wuseliger Hund bringt einfach Leben in die Bude. Die Frauen sind begeistert, jede will ihn streicheln – endlich fokussiert sich nicht mehr alles auf mich. Auch Kinder sollten viel öfter die Heime besuchen. Kürzlich habe ich sechs Lütte aus einem nahen Hort eingeladen, damit sie gemeinsam mit den alten Damen Luftballons malen. Die Alten haben sehr interessiert zugesehen, was die Kleinen so herstellen, und plötzlich war da so eine lebhafte-liebevolle Atmosphäre, wie sie eigentlich in jedes Heim gehört. Die Kinder waren sehr niedlich und haben sofort angeboten wiederzukommen.
Trotzdem ist das Pflegeheim für Ihre Malerinnen die letzte Station. Wie ertragen Sie es, sie sterben zu sehen?
Gute Therapeuten müssen eigentlich Distanz haben. Leider habe ich ein sehr enges Verhältnis zu vielen Frauen. Das habe ich immer noch nicht im Griff.
Aber Sie denken nie daran aufzugeben?
Das Leiden gehört dazu. Ich habe ja auch eine solche Freude. Ich liebe die alten Frauen einfach, diese Ehrlichkeit. Sonst weiß man im Umgang mit Menschen ja nicht unbedingt, woran man ist. Außerdem habe ich im Heim ein Publikum. Das ist auch meine Eitelkeit. Ich gehe da rein und stelle mich dar, ohne dass zu viel Kritik laut wird.
Um das eigene Geltungsbedürfnis zu befriedigen, muss man doch nicht im Pflegeheim arbeiten. Man kann auch Politiker werden, Lehrer, Journalist oder einen Laden eröffnen …
Aber im Heim ist kein Kampf. Als Bäuerin habe ich gekämpft, gegen zu viel Regen oder zu viel Sonne, um Kunden. Im Pflegeheim hingegen ist nur Dankbarkeit. Da kann ich so sein, wie ich will. Außerdem bin ich dort nicht die Älteste – und sonst bin ich überall die Älteste.
Inge Dethlefs ist morgen zu Gast im taz salon „Neubeginn im Alter – wie die Generation jenseits der 60 sich noch einmal neu erfindet“. Weitere Teilnehmer sind Hermann Schreiber, der als Ex-Chefredakteur von Geo noch einmal Praktikant am Theater war, und Ulrike Herrmann, taz-Redakteurin und Autorin des Buches „Älter werden, Neues wagen“. Edition Körber Stiftung. 13. November, 20 Uhr, Kulturhaus 73, Schulterblatt 73, Hamburg
Hinweis:INGE DETHLEFS, 74, ist Putzmachermeisterin, hat aber die Hutmacherei nie ausgeübt, sondern einen Sylter Bauern geheiratet und dort den ersten Bioladen gegründet. Derzeit lässt sie sich zum Klinik-Clown fortbilden.