Pflege wird häppchenweise gepflegt

Rot-Grün verspricht, dass eine Reform der Pflegeversicherung doch bis zur Bundestagswahl 2006 stattfindet – aber „in Stufen“. Kanzler verspricht, immer noch in blendender Reformlaune zu sein. Schmidt auszubremsen sei „keine generelle Geschichte“

VON ULRIKE WINKELMANN

Sankt Nimmerlein kann noch in dieser Legislaturperiode gefeiert werden. Die Reform der Pflegeversicherung, am Dienstag von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wegen vermuteter öffentlicher Unverträglichkeit abgeblasen, soll nun doch bis zur Bundestagswahl 2006 stattfinden. Dies ergab ein Gespräch der Koalitionsspitzen im Kanzleramt gestern Morgen.

Beschlossen sei, die einzelnen Maßnahmen „stufenweise“ einzuführen, erklärte Grünen-Sozialexpertin Thea Dückert, die am Gespräch teilgenommen hatte, der taz. In diesem Jahr – „Stufe 1“ – muss das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden, wonach Eltern in der Pflegeversicherung entlastet werden sollen. Plan der Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) war bislang, alle Nichterziehenden einen Aufschlag von 2,50 Euro monatlich zahlen zu lassen.

Da hierdurch auch Eltern erwachsener Kinder, sprich Rentner belastet würden, hatte Schröder Schmidt ausgebremst: unzumutbar, meinte er. Statt dessen sollen nun aktiv Erziehende entlastet werden. Das geht nur über Steuern oder über geringere Beiträge – beides schwierig. Finanzminister Hans Eichel wird nichts abgeben. Von niedrigeren Beiträgen – bislang 1,7 Prozent – jedoch profitieren auch die Arbeitgeber, und das hat das Gericht nun nicht verlangt.

Auch sind die Entlastungsbeträge, an denen bislang herumgerechnet wird, kaum zu vermitteln: etwa 43 Cent pro Nase – wofür sich Eltern sicherlich bedanken werden. Ein Griff in die Reserven der Pflegekasse schließlich wird den Reformbedarf nur erhöhen. Die Pflegeversicherung lebt seit 1999 von der Substanz. Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) erklärte zu all dem gestern im Bundestag: „Wir werden einen Weg finden.“

Sie zählte auch die übrigen Teile einer Pflegereform auf: Demenz-Erkrankte brauchten Leistungen. Die Pflegesätze müssten dynamisiert, also den steigenden Lohnkosten angepasst werden. Die ambulante Pflege – zu Hause – und die stationäre Pflege – im Heim – würden angeglichen. Dahinter verbirgt sich ein weiterer Sprengsatz, denn nach bisherigen Plänen bedeutet dies nichts anderes, als für neue Heimbewohner die Leistungen zu kürzen. Das alles „werden wir angehen“, sagte Schmidt.

Wie das „Angehen“ dieses „Stufenplans“ nun aussehen soll, bleibt abzuwarten. Grünen-Fraktionschefin Krista Sager sagte der taz: „Die Reserven der Pflegeversicherung sind am 1. 1. 2006 aufgebraucht. Es ist vollkommen klar, dass etwas geschehen muss.“ Auch Dückert sagte der taz, „der Handlungsbedarf wird in der Koalition klar gesehen“. Anders als bei den Grünen sonst üblich, wiesen weder Sager noch Dückert darauf hin, dass die Grünen die SPD antreiben wollten: Könnte sein, dass die Grünen an einen Erfolg in ihrer Lieblingsrolle „Reformmotor“ und also an den Stufenplan selbst nicht glauben.

Hierzu besteht auch kein Anlass. Es ist schlicht nicht möglich, den wachsenden Bedarf an Pflege zu decken, ohne irgendwem Geld wegzunehmen. Und angesichts der vielen Wahlen in diesem Jahr und dann der Bundestagswahl muss sich der Kanzler überlegen, wie er einerseits Reformfreude vermitteln und andererseits empörte Schlagzeilen à la „Jetzt geht’s auf die Alten“ vermeiden möchte.

Vorgestern Abend unternahm er hierzu erste Versuche. Der Bundeskanzler erklärte, er wolle von Sozialreformen nicht generell Abstand nehmen. Lediglich die Belastung von Menschen, die Kinder erzogen hätten, sei nicht gerecht. „Das hat überhaupt nichts zu tun mit Reformbremse.“ Es gehe um eine Einzelmaßnahme und „keine generelle Geschichte“.

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