Ein Bus sucht seine Fahrgäste

„Ich kenne keine Stadt im äußeren Umland, die sich positiv entwickeln wird“, prophezeit der Statistiker

AUS MÜROW UND POTSDAMKIRSTEN KÜPPERS

Weil das Land immer leerer wird, müssen sich die Brandenburger etwas Neues ausdenken. Weil das Land zu leer ist, als dass noch ein Bus kommt, fahren die Menschen in der Uckermark jetzt Taxi. Die wenigen, die noch dageblieben sind. Die wenigen, die noch Arbeit haben, aber kein Auto. Sie wählen eine Nummer, und in einer schwach beleuchteten Einfahrt eines Einfamilienhauses in dem kleinen Ort Mürow schwingt sich Norbert Junklewitz in seinen Wagen und braust los. Es ist Abend, und Junklewitz rast die Straße entlang. Er prescht über die Dörfer, vorbei an öden Höfen und stillen Feldern. Normalerweise fährt Junklewitz mit einem Reisebus durch Paris und Florenz. Hinten im Bus sitzen chinesische Reisegruppen. Die Chinesen gucken sich erst den Eiffelturm an, dann die Toskana, am Lenkrad sitzt Norbert Junklewitz aus der Uckermark und fährt durch die Welt.

Aber an diesem Januarabend ist Junklewitz zu Hause mit einem schlichten Pkw unterwegs, wo es neuerdings ein Modellprojekt gibt, in dem das Fuhrunternehmen Junklewitz eine maßgebliche Rolle spielt. Das Projekt „Rufbus“ hat sich die Personenverkehrsgesellschaft Angermünde ausgedacht. Weil immer mehr Leute wegziehen von hier. Weil keine neuen Menschen dazukommen, sondern alle immer nur in den Westen gehen.

Der Rufbus ist keine Rettung, er ist nur ein Anfang. Da es sich für ein Unternehmen nicht lohnt, Linienbusse durch eine Landschaft fahren zu lassen, in der keiner mehr ein- oder aussteigt, hat die Verkehrsgesellschaft Angermünde Norbert Junklewitz mit seinem Taxi engagiert. Die Leute rufen an, Junklewitz holt sie ab und bringt sie dorthin, wo sonst nichts mehr fährt. Wo ein paar Häuser zwischen Wiesen stehen und im Sommer die Störche glücklicher aussehen als die Menschen.

Um halb sieben wartet Monika Hinz in Angermünde an der Straße und will nach Hause. Eine müde Frau mit einer Plastiktüte in der Hand. Sie rutscht auf die Rückbank von Junklewitz’ Wagen, und es riecht nach Seife. Das liegt daran, dass Monika Hinz seit ein paar Wochen in einer Bäckerei putzen geht. „Einer von diesen Minijobs“, schnaubt sie. Und weil damit eine jener Pausen entsteht, die in keine helle Zukunft weisen, schaltet Junklewitz das Radio ein.

Er rast acht Kilometer in weniger als sechs Minuten. Am Ende eines dunklen Straßendorfs steigt Monika Hinz aus und zahlt 2 Euro. Das ist billig für eine Taxifahrt übers Land. Die Verkehrsgesellschaft hat diesen Preis festgelegt. Er setzt sich zusammen aus 1,20 Euro für eine Busfahrt plus 80 Cent Komfortzuschlag für das Taxi. Normalerweise würde es das Fünffache kosten, behauptet Norbert Junklewitz und zischt vorwurfsvoll durch die Zähne. Er weiß auch nicht, ob das mit dem Rufbus eine gute Idee ist. Sein Schaden ist es jedenfalls nicht, ihn bezahlt die Verkehrsgesellschaft Angermünde.

Wer den ganzen Tag am Steuer sitzt, sieht eine Menge, und Junklewitz sieht, dass alles dichtmacht hier: die Diskotheken, die Läden, auch das Bahnhofsklo in Angermünde ist zu. „Allet jeht vor die Hunde. Hier jibt’s keene Arbeit, alle hauen ab“, knurrt Junklewitz. „Nur die, die nich’ bis drei zählen können, bleiben.“ Er guckt auf das Seitenfenster, die Scheibe ist beschlagen. Es sieht so aus, als müsse Junklewitz dringend mal wieder nach Florenz.

In einem Büro in Potsdam sitzt Wolf Beyer und hat Recht. Ein kleiner Mann mit grauen Haaren und einer getönten Brille im Gesicht. Das Neonlicht an der Decke leuchtet auf einen Tisch, einen Aktenschrank, eine Grünpflanze, eine Gardine. Sonst ist da nichts. Aber vielleicht ist das die Bescheidenheit, die es braucht, um nach vorn zu blicken. Beyer ist Statistiker. Er ist Leiter des Referats Raumbeobachtung im Landesumweltamt Brandenburg. Und Beyer hat die Katastrophe kommen sehen.

Seit der Wende hat Wolf Beyer die Geburtenraten in Brandenburg verfolgt. Er hat festgestellt, dass jedes Jahr mehr Leute sterben, als geboren werden, er hat Kurven auf Folien gezeichnet. Die Kurven gingen nie nach oben. Sie fielen nur immer steiler. Ein Vorgang von leiser Dramatik.

Beyer war alarmiert. Er hat anderen Leuten von seinen Kurven erzählt. Fast niemanden haben sie interessiert. Die Menschen in Brandenburg wollten nach der Wende an Wachstum glauben, die Politiker sprachen von Aufschwung. Keiner wollte sich von Beyers Folien die Laune verderben lassen.

Beyer hat gewartet. „Ich habe gewusst: Jedes Jahr wird dir die Statistik Recht geben.“ Er knibbelt an einer Folie herum, die vor ihm auf der Tischplatte liegt, und eine gewisse Genugtuung macht sich in ihm darüber breit, wie sich die Dinge entwickelt haben. Die Kurve der Geburtenrate zeigt inzwischen wieder schwach nach oben, aber das kann die Situation nicht mehr retten. Alles ist so gekommen, wie Beyer es erwartet hat.

In diesem Monat geht Wolf Beyer in Pension, und plötzlich wollen die Leute ihm zuhören. Jetzt, wo die Krise offensichtlich ist. Wo schon in jeder Zeitung zu lesen war, dass fast nirgendwo in Europa so wenige Kinder geboren werden wie in Ostdeutschland. Wo die Schulen geschlossen werden müssen, weil die Klassen zu klein sind. Wo in den Ortschaften ganze Straßenzüge leer stehen, wo die Städte ihre Krankenhäuser und Universitäten nicht mehr bezahlen können, wo die Putzfrauen nun mit dem Taxi von der Arbeit nach Hause fahren, weil das immer noch billiger kommt als ein Linienbus.

Wolf Beyer ist neuerdings ein gefragter Mann. Die Landesregierung hat wegen seinen Kurven eine interne Arbeitsgruppe gebildet: In der neuen Arbeitsgruppe sollen alle Referatsleiter überlegen, wie man fertig wird mit der Situation. Wolf Beyer hält inzwischen Vorträge vor Schulklassen, vor Wohnungsbaugesellschaften, vor Brandenburger Politikern. Die Schüler fragen ihn, wie weit die Schulwege in Zukunft werden, die Manager der Wohnungsbaugesellschaften fragen, wer in ihren Wohnungen wohnen wird, die Politiker wollen wissen, wer die Steuern zahlen wird – wie überhaupt auszukommen ist, in einem Land ohne Leute.

Beyer hat keinen Trost für sein Publikum. Er ist Statistiker. Er guckt auf die Zahlen und spricht aus, was die Berechnungen ergeben: „Ich kenne keine Stadt im äußeren Umland, die sich positiv entwickeln wird.“ Das äußere Umland umfasst alle Teile Brandenburgs, die jenseits des Berliner Speckgürtels liegen. Dazu gehören Städte wie Schwedt und Wittenberge, die schon in den vergangenen zehn Jahren mehr als ein Viertel ihrer Bewohner verloren haben. Zum äußeren Umland zählt auch die Provinz, weite Gegenden wie die Uckermark, die Prignitz, der Spreewald und die Lausitz. 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung sind von hier bereits abgewandert. Und auch in Zukunft werden die Leute hier nicht mehr werden, sagt Beyer. Die Menschen gehen weg, sie sterben, oder sie kriegen zu wenige Kinder. Wenige Kinder heute bedeuten weniger Mütter morgen, bedeuten noch weniger Kinder in der Zukunft. Es ist eine sich fortsetzende Abwärtsbewegung. Beyer fischt in seinen Unterlagen, er kann das mit Zahlen und Kurven belegen.

Die Statistik liefert eine Prognose, sie sagt nichts darüber, wie man die Krise übersteht. Beyer macht einen Versuch: „Wir haben uns an ein hohes Versorgungsniveau gewöhnt. Das wird schlicht nicht mehr zu gewährleisten sein. Wer aufs Land zieht, muss einfach in Kauf nehmen, dass die nächste Kita für die Kinder viele Dutzend Kilometer weit weg ist. Früher war das ja auch so.“

Bei seinen Ausführungen über die Zukunft ist Beyer in der Vergangenheit angekommen, er geht noch weiter zurück. Er sagt, dass die Pest und der 30-jährige Krieg Brandenburg schon einmal einen drastischen Bevölkerungsrückgang beschert haben und dass es in der Geschichte eben passiert, dass Landstriche veröden. Vielleicht hat Beyer zu lange in seinem kahlen Büro warten müssen. Vielleicht hat die Aussicht auf die bevorstehende Pension Beyer so abgeklärt gemacht. Vielleicht ist Beyer auch einfach nur Realist.

„Nur die, die nich’ bis drei zählen können, bleiben hier“, knurrt der Busfahrer und schaltet das Radio ein

Sein Vorgesetzter Rainer Speer steht in seinem Dienstzimmer und sieht aus wie ein Cowboy. Der Chef der Brandenburger Staatskanzlei ist ein breiter Kerl, unrasiert, das weit aufgeknöpfte Hemd beult sich über die Jeans. Mit einem Schnaufen lässt sich Speer in seinen Stuhl fallen. „Magentee“, brummt er die Sekretärin an. Der Beamte, der die neue Arbeitsgruppe koordinieren soll, kommt herein, er schweigt nervös. Die Gelassenheit des Statistikers ist in diesem Zimmer noch nicht angekommen.

Das ist kein Wunder. Weil die Prognose Recht behalten hat, haben sie mehr als jede zweite Kita im Land schließen müssen. Dann waren die Grundschulen dran. Jetzt sind die weiterführenden Schulen an der Reihe. Damit macht sich kein Politiker beliebt. Und wer wie Rainer Speer gegen hungerstreikende Eltern und protestierende Kinder antritt, braucht vielleicht die Raubeinigkeit eines Westernhelden, um Gut und Böse in diesem Kampf noch auseinander halten zu können.

Speer schnauft. Irgendwie müssen sie ja weitermachen. Er und seine Leute von der SPD haben sich vorgenommen, das Land zu regieren, auch wenn die Kurven sagen, dass alles schlechter wird, nichts besser. Sie könnten jetzt kreativ sein, sie müssen sich überlegen, was die Brandenburger anstellen können mit ihrer schönen leeren Landschaft, wie das Leben weiterläuft für die wenigen, die bleiben. Und es ist ja nicht so, dass es keine Ideen gibt.

„Wir gucken jetzt nach Finnland“, fällt Speer ein. Von dort kommt die Idee mit den Computern. „E-Learning und E-Gouvernment wird in Zukunft sicherlich eine Rolle spielen“, erklärt er. Sie müssen sich neue Berufsschulen ausdenken, sie müssen sich überlegen, ob es sie noch lohnt in diesen Schulen Bauarbeiter und Chemielaboranten auszubilden, sie müssen über mobile Krankenhäuser nachdenken. Schon jetzt gibt es Menschen, die mit fahrbaren Containern als Bäckerei, Metzgerei, Bank oder Theater über die Dörfer ziehen, weil sich eine feste Filiale nicht mehr rechnet. Es gibt den Rufbus in der Uckermark. Speer zählt auf. Er tut es mechanisch und ohne Begeisterung. Sein Koordinierungsbeamter schweigt.

Denn am Ende landen sie immer da, wo Speer und seine Kollegen keine Antwort mehr haben. „Die Leute gehen dahin, wo Arbeit ist“, sagt er lahm. „Ich sehe keine Möglichkeit, wie man diesen Prozess aufhalten kann.“ Die Sache hat sich verselbstständigt, in einer Gegend ohne Arbeit bleiben nur die Alten und Schwachen zurück. Speer stiert auf den Wandschrank. Wahrscheinlich ist es ein zu große Aufgabe für einen Cowboy, die Arbeit wieder nach Brandenburg zu holen. Wahrscheinlich reiten Westernhelden am liebsten auf ihrem Pferd und haben ihre Ruhe. Ein auf einmal sehr zusammengesackter Chef der Staatskanzlei sitzt in seinem Stuhl und trinkt Magentee.

Um das Schweigen zu füllen, schaltet sich der Koordinierungsbeamte ein, er sagt, dass es noch dauert. Dass sie noch nicht soweit sind. Die Referatsleiter gucken immer noch auf die Kurven. In diesem Monat wollen sie ein Papier schreiben. Irgendwann sollen erste Prüfungsaufträge rausgeschickt werden. Es kann sich hinziehen. Die neuen Berufsschulen mit den neuen Lehrberufen wird es frühestens 2007 geben. Die Brandenburger haben keine Zeit mehr, aber sie beeilen sich auch nicht besonders.