„Almanya“ ist sein Programm

Seit 40 Jahren setzt sich Riza Baran für die Integration ausländischer Mitbürger und Mitbürgerinnen in Deutschland ein. Der Kreuzberger Politiker hat eine Leidenschaft fürs Überzeugen. Er denkt auch dann noch konstruktiv, wenn alles verloren scheint

von WALTRAUD SCHWAB

Von 40 Jahren Migrationsgeschichte wird hierzulande gesprochen. Meistens sind 40 verpasste Jahre gemeint. Denn nach wie vor glaubt ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Einer gibt trotzdem nicht auf. Riza Baran heißt er.

Vor 40 Jahren ist er in München angekommen. Drei Tage hatte die Reise im Zug von Ankara gedauert. „Als ich aus dem Bahnhof trat, lag feucht-erdiger Geruch in der Luft. Dass der Frühling in Deutschland so riecht, hab ich erst verstanden, nachdem ich ein paar Winter hier war“, meint der heute 61-Jährige. Ein Einwanderer der ersten Generation ist er. Mittlerweile wächst in Deutschland die dritte und vierte Generation heran.

Dass Baran hier gelandet ist, ist Zufall. „Almanya“ stand nicht auf dem Programm. Sein Vater, kurdischer Viehzüchter in Anatolien, war dagegen. „Das mit Hitler konnte er nicht vergessen“, erzählt Baran. Nur sein Philosophielehrer am Gymnasium, der von Hegel, Kant, Fichte und Schopenhauer schwärmte, machte ihn neugierig. „Ich glaub, ich war der Einzige, der damit was anfangen konnte. Oder anfangen wollte.“

Vielleicht ist Baran deshalb ein eigenwilliger Dialektiker geworden. Einer mit zwei Eigenschaften, die ihn unbeirrt seinen Weg gehen lassen. Der Bauingenieur und spätere Berufsschullehrer glaubt daran, dass durch Beharrlichkeit und durch stetig neue Vorschläge, wie das Undenkbare gedacht werden kann, dem Neuen der Weg geebnet wird. Die zweite Eigenschaft des Vorstehers der Bezirksverordnetenversammlung in Friedrichshain-Kreuzberg: Er redet mit seinen politischen Gegnern, bis ein Konsens gefunden ist.

Die Leidenschaft fürs Überzeugen, zeigte sich bei Baran schon früh. So verlangte er von seinem Vater, dass er den Kindern seiner Hirten den Schulbesuch genauso ermögliche wie ihm. Dazu mussten sie Türkisch lernen, weil das die Unterrichtssprache war. Sich in den gängigen Sprachen so weit auszukennen, dass ein Austausch mit dem Anderen, dem Fremden, möglich ist, ist für ihn von da an unabdingbar geblieben. Mit dieser Überzeugung stürzte er sich, kaum in München angekommen, auf den Deutschunterricht. Wobei ihm zugute kam, dass er, anders als die meisten seiner Landsleute, 1963 zum Studium nach Deutschland ging.

„Als ich nach Deutschland kam, gab es noch kein Ausländergesetz, sondern eine Verordnung von 1938“, sagt er, als erkläre dies, warum er schon wenig später im türkischen Studentenbund aktiv wurde. Die politischen Kontroversen, mit denen die BRD über Jahrzehnte versuchte, die Ausländerfrage zu negieren, spiegelt sich an seiner Biografie. Aufgrund des ersten Ausländergesetzes 1965 drohte ihm die Abschiebung, da er angab, „für immer“ bleiben zu wollen. Ein Versehen. „Sobald ich das Diplom hab, bin ich weg – so dachten wir lange.“ Das sei eine Lebenslüge gewesen. „Man bringt sich nicht ein, man wehrt sich nicht, wenn man seine Anwesenheit nur als vorübergehend betrachtet“, sagt er. „Am Anfang habe ich mir immer Wohnungen in der Nähe des Münchener Hauptbahnhofes gesucht.“ Als Baran jedoch mit seinem Studium fertig war, war der osmanische Charmeur, der er bis heute geblieben ist, längst nicht mehr nur politisch mit Deutschen verbandelt.

Der bis heute dauernde Zickzackkurs der Bundesregierung in der Ausländerfrage zeigt, wie sehr sich Parteipolitiker an diesem Thema zu profilieren suchen. 1979 tauchte in einem Memorandum des ersten Bundesbeauftragten für Ausländerangelegenheiten das Stichwort „Einwanderungsland“ auf; die CDU blockiert eine konstruktive Umsetzung dieser Erkenntnis bis heute. 27.144 Menschen aus der Türkei lebten 1963 in Deutschland. 40 Jahre später sind es 2,3 Millionen mit primär türkischer Herkunftskultur. „Ich habe immer versucht, Leute gegen restriktive Ausländerpolitik zu mobilisieren und dafür nationalitätenübergreifende Bündnisse organisiert“, sagt Baran. „Dialog“ ist das Stichwort, auf das er setzt.

Weil direkte Partizipation mit seinem ausländischen Pass nicht möglich war, arbeitete Baran bei Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden mit. Zweisprachige Erziehung, doppelte Staatsbürgerschaft, kommunales Wahlrecht für Ausländer, Versöhnung zwischen Kurden und Türken – alles Themen, die bis heute auf seiner Agenda stehen. Zwei der vielen Vereine, zu deren Gründungsmitgliedern er zählte: „IAF – Interessengemeinschaft der mit Ausländern verheirateten Frauen“ und „Komkar“, eine Föderation der Vereine aus Kurdistan. Baran hat seine Heimat nie verleugnet, das hat ihm eine Rückkehr in die Türkei erschwert. Er forderte, dass Kurden als eigenständige Minderheit anerkannt werden, dass kurdische Kinder muttersprachlichen Unterricht in Berlin erhalten, er veröffentlichte in kurdischen Publikationen – alles Dinge, für die man in der Türkei ins Gefängnis kam.

Derzeit treibt Baran die Ethnisierung gesellschaftlicher Probleme um, wie sie sich im Bildungsbereich und an steigenden Kriminalitätsraten zeigt. „Man muss in Berlin endlich verstehen, dass die zweite und dritte Einwanderergeneration Produkt dieser Gesellschaft ist. Sie wurden hier sozialisiert. Die Gesellschaft hat dafür Verantwortung zu übernehmen.“

Weil die Grünen bereits 1984 die fortschrittlichsten Vorschläge zur Einwanderung machten, engagierte sich Baran, der seit 1991 einen deutschen Pass hat, in der Partei. 1995 gewann er für sie als erster Migrant in Berlin ein Direktmandant bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Das sei einer seiner größten Erfolge, zeige er doch, dass die Deutschen bereit seien, das Fremde anzuerkennen. Denn dass Integration ein Prozess ist, von dem sowohl die Migranten und Migrantinnen als auch die Menschen des Landes, in das die Einwandernden ziehen, profitieren, davon ist Baran zutiefst überzeugt. „Es gibt wenig Orte, in denen die Geschichte dies so deutlich zeigt wie in Berlin“, sagt er. „Hugenotten, Holländer, Böhmen, Juden – sie wurden hier angesiedelt und haben ihre Spuren hinterlassen. In jüngster Vergangenheit kamen Menschen aus dem Nahen Osten, heute sind es Osteuropäer. Das Lebendige dieser Stadt ist ihre Offenheit. Das muss sich heute endlich politisch niederschlagen“, meint Baran. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen sei wie eine Begegnung zwischen Freunden, zwischen Liebenden. „Im Austausch liegt die Synthese.“

Baran könnte stolz sein auf das, was er in 40 Jahren erreicht hat, aber „nun wirft mich der Krieg auf ‚Start‘ zurück“, sagt er. Eine seiner Stärken ist es jedoch, konstruktiv zu denken, selbst wenn alles verloren scheint. „Die vielen Menschen, die sich engagiert haben, müssen motiviert werden, nicht zu resignieren. Der Protest gegen Menschenfeindlichkeit muss verstärkt werden.“ Baran geht davon aus, dass der Krieg im Irak nicht zu einer Demokratisierung, sondern zu Chaos führen wird. „Deshalb müssen die demokratischen Kräfte im arabischen Raum gestärkt werden.“ Die weltweite außerparlamentarische Bewegung müsse das leisten. „Der Kampf um den Irak darf keiner der Kulturen werden.“