Unsichtbare Wunden

Viele Soldaten kehren von ihren Einsätzen traumatisiert zurück. Gezeichnet von der so genannten posttraumatischen Belastungsstörung sind vor allem Blauhelmsoldaten. Oft wird die Krankheit nicht – oder viel zu spät – erkannt

von ANITA BLASBERG

Es war Anfang der Achtziger, als die Wunden sichtbar wurden. Tagsüber machte Roy Smits eine Ausbildung zum Drucker, nachts schlich er sich aus dem Bett seiner Freundin, zog seine Armeeuniform an und begab sich auf Streifgang durch die waldigen Außenbezirke von Utrecht. Roy Smits konnte nicht schlafen, stattdessen suchte er nach dem Feind. Hinter jedem Baum, Nacht für Nacht. So lange, bis Polizisten ihn anhielten. Auf dem Revier wollten sie wissen, ob er ein Vergewaltiger sei, ein Mörder oder ein Dieb, doch Roy Smits wusste nicht, was er da tat. Er wusste nicht, was ihm Jahre später erst ein Arzt mitteilte: Dass seine innere Verwundung aus dem Libanon stammt, wo er als Wehrpflichtiger im Blauhelmeinsatz war, dass diese ihn sein Leben lang begleiten wird und PTSD heißt. Post-Traumatic Stress Disorder oder posttraumatische Belastungsstörung.

Auch Hendrik van der Pol war als Neunzehnjähriger im Libanon. Als er 1979 zurückkehrte, unterschrieb er, dass er sich seelisch gesund fühle, und begann, die Angst zu suchen, die ihm abhanden gekommen war. Beim Motorradfahren, beim Ärger in der Bar und mit dem Gesetz. Er trank viel und schlief wenig. Er baute eine Mauer um sich herum und ließ niemand an sich heran, nicht seine Kinder und schon gar nicht die Bilder der kopflosen Toten. Bis er 1999 in Bosnien diente. Wie in einer Zeitmaschine kamen die Bilder wieder, er ertränkte sie im Alkohol und wurde entlassen. Die Diagnose lautete: PTSD.

Erst 1980 wurde PTSD in das Handbuch für Statistik und Diagnose der WHO aufgenommen. Dort heißt es, die Krankheit sei eine verzögerte Reaktion auf ein Ereignis, das intensive Angst, Entsetzen und Hilflosigkeit ausgelöst hat. Neben Kriegserlebnissen können auch Naturkatastrophen, Unfälle oder Vergewaltigungen PTSD auslösen. Die Symptome sind dieselben: emotionale Taubheit, Aggression und Autoagression. Wer unter PTSD leidet, hat mit Schlaf- und Persönlichkeitsstörungen zu rechnen, befindet sich permanent auf einem erhöhten Stresslevel, neigt zu Depressionen.

Die gesellschaftlichen Konsequenzen sind vor allem in den USA unübersehbar: Ein Drittel der dortigen Obdachlosen sind Vietnamveteranen. Nicht zuletzt deshalb wurde 1989 das National Center for PTSD gegründet. Nach einer seiner Studien sind mehr als die Hälfte der Vietnamveteranen von PTSD betroffen. Ihr Drogenkonsum, die Kriminalitäts-, Scheidungs- und Suizidrate liegen weit über dem Durchschnitt. Der vorige Golfkrieg brachte den Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh und den „Sniper von Washington“ hervor. Schlagzeilen machte außerdem die bis heute nicht restlos erklärte „Gulf War Disease“, deren Symptome denen von PTSD ähnlich sind.

Nicht nur die „echten Kriege“ hinterlassen seelische Verwüstungen. Ein kanadischer Report vom vorigen Jahr schätzt, dass rund ein Viertel der heimkehrenden Blauhelme unter PTSD leidet. In Holland wird vermutet, dass bis zu zwanzig Prozent der Soldaten, die Zeugen des Srebrenicamassakers wurden, von dem betroffen sind, was früher als Soldiers Heart oder Battle Fatigue bezeichnet wurde. Die nüchterne Bezeichnung PTSD – bereinigt von Poesie und Vorwurf – fand die moderne Psychiatrie erst nach Vietnam.

Roy Smits nennt seine Krankheit nur „Laughing Eyes“. „Ich schaue mir die Augen eines Menschen an“, sagt er, „und wenn sie immer ein wenig zu nass sind, weiß ich Bescheid.“ Die Augen von Smits, 42, wirken vor allem unruhig und müde. „Als ich in den Libanon ging, war ich gerade achtzehn“, sagt er, „aber als ich nach einem halben Jahr nach Hause kam, fühlte ich mich wie 35. Das war kein Peacekeeping, sondern Bürgerkrieg.“ Insgesamt siebentausend Blauhelme sollten 1978 die UN-Resolution 425 durchsetzen und die Sicherheitszone im Südlibanon entlang der israelischen Grenze kontrollieren. Nach drei Jahren waren 152 gefallen. Smits lacht bitter: „Da standen ein paar unerfahrene Wehrpflichtige verfeindeten Milizen gegenüber, die weder Frieden wollten noch die Präsenz der UNO akzeptierten. Die christlichen Truppen beschossen uns von der einen Seite, die Hisbullahkämpfer von der anderen.“ Doch das Schlimmste, sagt Smits, sei die Hilflosigkeit gewesen: Um zurückzuschießen, mussten sie sich erst eine Erlaubnis einholen.

Einmal war Smits mit einem Kameraden zu Fuß unterwegs, als sie plötzlich beschossen wurden. Es habe zwei Möglichkeiten gegeben, sagt er: sich flach hinlegen oder in den Graben springen, der mit großer Wahrscheinlichkeit vermint war. Smits sprang in den Graben, sein Freund blieb stehen und schrie nach seiner Mutter. „Durch so etwas wirst du edgy“, sagt Smits, „unberechenbar, verrückt“.

Vor zwei Jahren erst sind ihm wieder die Augen eines Hundes eingefallen, den seine Kameraden mit Diesel übergossen und angezündeten. Smits hatte das Tier gemocht und ins Herz geschlossen. Seitdem, sagt er, vertraue er niemandem mehr. Smits trinkt zwei Tassen Kaffee in einer halben Stunde und erzählt, dass er sich vorher Notizen gemacht habe, damit er emotional unberührt bleibe. Als er seine Libanonfotos herausholt, steht er dennoch unter Strom. Auf den Bildern sind braun gebrannte Jungs zu sehen, die sich auf Panzern sonnen und mit ihrer Kalaschnikow unter der Bettdecke Krieg spielen. Kinderposen und Kindergesichter. Smits deutet auf einen blonden Jungen mit breitem Grinsen und wenig Bartwuchs, das nächste Foto zeigt sein Grab. „Er ist von einer Mine zerfetzt worden“, sagt Smits, „seine Schuhe hingen auf der Stoßstange unseres Jeeps, die restlichen Körperteile habe ich im Umkreis gefunden.“ Noch heute riecht er das Blut und hört die kreisenden Fliegen. Er sagt, den Rest des Tages werde er wohl doch im Libanon verbringen.

Das Büro von Dr. Wil Martens befindet sich in einem Utrechter Vorort, ein Altbau, nichts erinnert hier an Militär. Oberst Martens, Leiter der Psychologischen Abteilung der niederländischen Streitkräfte, kommt gerade aus Afghanistan, wo er Nachgespräche mit Soldaten geführt hat, die nun nach Hause fliegen. „Peacekeepingmissionen werden in der Öffentlichkeit leicht unterschätzt“, sagt er, „doch gerade sie sind mental schwer zu handhaben.“ Martens, 51, war selbst ein halbes Jahr in Bosnien und hat dort neben den Soldaten auch zivile Hilfskräfte, UN-Beobachter und Journalisten betreut. Leichte Symptome – erhöhte Schreckhaftigkeit etwa – entwickle fast jeder, sagt er. Der abrupte Wechsel von der Heimat in eine brutale Kriegssituation sei für alle schwierig, und bei den Blauhelmen komme hinzu, dass sie sich in ihrer Verantwortung oft überfordert fühlten, nicht selten unzureichend bewaffnet seien und sich nur bedingt verteidigen dürften.

„In Bosnien“, erzählt Martens, „durften sie nur darüber- oder darunterschießen. Sie durften keine Toten machen. Egal in welcher Situation.“ Hinterher falle es schwer, sich zu Hause wieder einzugewöhnen und die Erfahrungen mit seinem Umfeld zu teilen. Besonders, sagt Martens, wenn wie im Fall Srebrenica Scham- und Schuldgefühle hinzukommen und Medienberichte das Trauma verstärken. Die Soldaten des Dutchbat 3 mussten 1995 hilflos mit ansehen, wie serbische Truppen siebentausend Zivilisten töteten – in der muslimischen Enklave, die sie eigentlich beschützen sollten.

Als Roy Smits 1979 aus dem Libanon zurückgekehrte, hat er geschwiegen. Die Armee hatte den Heimkehrern das Reden verboten, und das war ihm recht: Er wollte nur vergessen. „Für meine Familie war unser Einsatz nicht mehr als ein Urlaub am Mittelmeer“, sagt Smits und dass niemand in seiner Umgebung etwas gemerkt habe, nicht einmal seine Freundin. Seine Wunden waren unsichtbar – bis zur nächtlichen Verhaftung. Doch erst sechs Jahre später, als er sich vor Schwäche nicht mehr auf den Beinen halten konnte, ging er zu einem Psychologen. Es wurde alles viel schlimmer. „Meine Freundin trennte sich von mir, die Wut und die Angst wollten nicht heraus, und ich habe überlegt, mich auf dem Friedhofszaun aufzuspießen.“ Erst unter Hypnose konnte er sich an manche Dinge erinnern, Erlebnisse und Gefühle ausdrücken. Er wurde überempfindlich und aggressiv. „Ich war ein Pulverfass“, sagt er, „und konnte jeden Moment explodieren.“ Eine stationäre Therapie half ihm 1999 schließlich, sein Verhalten in den Griff zu bekommen.

„Um ein Trauma erfolgreich behandeln zu können, muss es früh erkannt werden“, sagt Wil Martens, „ansonsten verstärkt es sich durch zusätzliche Beziehungsprobleme oder Suchtverhalten.“ Dies sei jedoch schwierig, weil fast alle Betroffenen schweigen und sich isolieren. Auch aus Scham. Nicht selten werden sie von ihren Vorgesetzten und Kameraden als Simulanten, Verrückte oder Feiglinge stigmatisiert. Zudem trifft es vor allem Menschen, die nicht gelernt haben, über ihre Gefühle zu sprechen. Wichtig, sagt Martens, sei es deshalb, die Familien einzubeziehen und besser über PTSD zu informieren.

Auch die Familie von Hendrik van der Pol war ahnungslos. „Als ich aus dem Libanon zurückkam, war ich ein anderer Mensch, reizbar und aggressiv“, sagt er, doch niemand habe das komisch gefunden. Er ist halt ein Wilder, ganz wie sein Vater, haben sie nur gesagt. Sein Vater war acht Jahre im Koreakrieg – auch er leidet an PTSD.

Van der Pol selbst trat mit seinem unerkannten Trauma in die kanadische Berufsarmee ein. Nach seinem Bosnieneinsatz wurde ihm dort schlicht Alkoholismus diagnostiziert. „PTSD existierte offiziell nicht“, sagt van der Pol, ein Veteranenbuch über die Krankheit kursierte in seiner Kaserne unter der Hand – es war verboten. Er schätzt die Dunkelziffer in der kanadischen Armee auf über fünfzig Prozent. „Es gab kaum jemanden, der nicht getrunken hat“, sagt er, „und wenn ich auf die Stube kam, hatte ich Angst, dass wieder jemand vor dem Fenster baumelt. Einmal im Monat kam das vor.“

Erst durch den prominenten Fall von Romeo Dallaire, Kommandant der UN-Truppen in Ruanda, konnte PTSD in Kanada nicht mehr ignoriert werden. Nachdem er 1994 ohnmächtig den Genozid an achthunderttausend Menschen erlebt hatte, kehrte der hoch dekorierte General und Kalte Krieger als gebrochener Friedensaktivist zurück. Nach einem Suizidversuch, alkoholisierten Nächten auf öffentlichen Parkbänken und einer Therapie hat er sich die Aufklärung über PTSD zum Lebensziel gemacht: Heute ist er ausgestattet mit einem Sonderorden der Vereinten Nationen, ist Harvarddozent und Berater der Armee.

„Die Niederlande“, sagt Wil Martens, „haben ihre Lektion aus dem Libanon gelernt.“ Seit zehn Jahren sind sie in der Erforschung, Prävention und Behandlung von PTSD Vorreiter. Seine Abteilung besteht aus dreißig Psychologen und fünf Sozialarbeitern, Probleme bei UN-Einsätzen werden in Universitätsstudien untersucht. Vor UN-Missionen, erzählt Martens, werden die Soldaten nach risikoerhöhenden Merkmalen befragt, man führt Patrouilleübungen in nachgebauten Dörfern, Antistresstrainings und Workshops duch. Die Führungskräfte werden in Sachen PTSD geschult, und während der Einsätze ist immer ein Psychologe vor Ort. Um etwaige Symptome zu erkennen, führt Martens vor der Heimkehr mit jedem Soldaten ein Einzelgespräch, nach zwei Monaten folgt ein weiteres, und ein halbes Jahr später erhält jeder einen Fragebogen, in dem mögliche psychosomatische Reaktionen abgefragt werden.

Zu spät für Roy Smits und seine Freunde. Deswegen ist der Mann mit den alten Augen und dem Jungslächeln einer der Moderatoren der Blue-Helmet-Homepage, auf der sich ehemalige Blauhelme, PTSD-Opfer und deren Angehörige austauschen. „Menschen“, sagt er, „die das Böse nicht vergessen können und die das hier wenigstens niemandem erklären müssen.“ Die meisten von ihnen sind zwischen vierzig und sechzig. Oft brauche es dreißig Jahre, bis einer merkt, was mit ihm los ist, sagt Smits, PTSD habe eben eine lange Inkubationzeit. Junge Veteranen von Srebrenica seien deshalb noch nicht dabei, genauso wenig wie die Deutschen.

In der hiesigen Öffentlichkeit ist PTSD weitgehend unbekannt, und die wenigen deutschen Seiten im Internet betreffen Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizisten, keine Soldaten. Die Bundeswehr hat zwar erst wenige Blauhelmeinsätze hinter sich, dennoch gibt es anerkannte PTSD-Fälle und laufende Verfahren zur Prüfung der „Wehrdienstbeschädigung“, wie die Arbeitsunfähigkeit durch PTSD bezeichnet wird. Anders als in anderen Ländern haben die Betroffenen in der Bundeswehr keine Gewerkschaft, die ihre Fälle an die Öffentlichkeit bringt oder für ihre Pensionen kämpft. Ihre Interessen werden vom Bundeswehrverband vertreten.

Aktuell befinden sich rund zehntausend Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen – so viele wie nie zuvor. Das in Kabul stationierte Bataillon hat seit Februar gemeinsam mit den Holländern das Kommando der Sicherheitstruppe Isaf übernommen. Das Verteidigungsministerium spricht von einer „unruhigen und instabilen Lage“. Wolfgang Roth, Referent für militärische Psychologie, meint, PTSD sei derzeit allenfalls ein Randthema: „Weit über neunzig Prozent unserer Leute kommen ohne Probleme aus dem Einsatz. Wir gehen davon aus, dass etwa zwei Prozent potenziell gefährdet sind, und unsere bisherigen Zahlen liegen noch weit darunter.“ Seit die Bundeswehr vor etwa zehn Jahren in Richtung Einsatzarmee umgewandelt wurde, entwickelt Roth Konzepte für eine umfassende Einsatzbetreuung. Derzeit seien jedoch leider nur vierzehn hauptberufliche Truppenpsychologen im Dienst.

Roy Smits ist heute zu hundert Prozent behindert, er hat vierzehn Jahre Therapie hinter sich und lebt von Sozialhilfe. Seinen letzten Job bei der Post musste er kündigen, weil ihn die Pakete, die hinter seinem Rücken hin und her flogen, in Angst versetzten. Der Stress – viel zu groß. Seine Depressionen kommen in Schüben und machen ihn teilnahmslos oder aggressiv. Er ist ständig unter Hochspannung und deshalb immer müde. „Tired at heart“ – herzensmüde, das sei wohl die beste Beschreibung seines Zustands, sagt Smits, der ohne Medikamente nicht leben kann.

Smits dreht sich eine Zigarette und sagt: „Ich habe Herzrasen, wenn ich aus dem Augenwinkel einen Regenschirm sehe, weil ich denke, es wäre eine Kalschnikow. Und ich wache nachts zitternd auf, weil ich merke, dass ich mit meiner Faust kurz vor dem Gesicht meiner Freundin bin.“ Sein größter Traum: dass diese verfluchte Krankheit irgendwann einmal aufhört, ihn zu beherrschen.

Dann steigt er in sein Auto mit dem Libanon- und dem UN-Aufkleber hintendrauf und braust davon.

ANITA BLASBERG, 25, ist freie Journalistin. Sie studiert Soziologie in Düsseldorf