Früchte des Wahnsinns

Vom „Tempel der Tat“ zum Absenken des Mittelmeers: Die Architekten der 1920er und 30er Jahre vergaßen gerne die Statik zu Gunsten von omnipotenz-geschwängerten Utopien. Herausgekommen sind dabei Ölgemälde, Aquarelle und Modelle, die das Paula Modersohn-Becker Museum ab Sonntag zeigt

Völlig durchgeknallt. Oder: Genial. Zum Teil: Faschistoid. Jedenfalls: Spannend, die architektonischen Phantasien expressionistischer Künstler. Ab Sonntag sind sie in der Ausstellung „Bau einer neuen Welt: Architektonische Visionen des Expressionismus“ im Paula Modersohn-Becker Museum zu bewundern.

Die Umbruchstimmung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg setzte außerordentliche Energien frei – obwohl oder gerade weil weit gehend Auftragsflaute herrschte. Architekten wie Wenzel Hablik oder Wassili Luckhardt tobten sich in ihren Skizzenbüchern aus und konnten dabei meist nicht auf Realisierungen hoffen. Was den Vorteil hatte, dass sie sich auch um statische Grenzen nicht kümmern mussten.

Der „Bau einer neuen Welt“ wurde also in wahren Makroprojekten erdacht. Bruno Taut etwa wollte die Alpen „architektonisch überformen“, Peter Behrens entwarf einen gewaltigen Damm für die Gibraltar-Passage, der die Absenkung des Mittelmeeres um 100 Meter ermöglichen sollte.

Architektur war eben schon immer in Versuchung, sich gottähnlich aufzuschwingen – man denke nur an die uralten Themen des Turmbaus zu Babel oder des „himmlischen Jerusalem“. Dazu passt die von den Ausstellungsmachern Rainer Stamm und Daniel Schreiber herausgearbeitete Erkenntnis, dass auch das „Bauhaus“ in seinen Anfängen keineswegs sachlich-nüchtern war, sondern angefüllt von religiösem Pathos.

Unter den gut 150 Exponaten von über 40 Künstlern (ein großes „I“ erübrigt sich) findet man selten Gezeigtes wie Johann Michael Bossards „Tempel der Tat“ oder trickreich Animiertes in Gestalt von Otto Bartnings nie gebauter „Sternkirche“: Deren Raumgefühl und -akustik sind per Videosimulation nachzuvollziehen. Mittendrin erwarten den Besucher wohl bekannte Formen wie das Modell von Rudolf Steiners Dornacher „Goetheanum“: Urtypus jeder Waldorfschule. Der „umgestürzte Quarkbecher“, wie Kurator Schreiber – offenbar kein Anthroposoph – die Form umschreibt, demonstriert einmal mehr Steiners Eingebundenheit in die Phänomene seiner Zeit – und die Relikthaftigkeit, die durch das Musealisieren seines Stils entsteht.

Kreativere Fortführungen des expressionistischen Inputs sind in Ausstellung und Katalog immerhin angedeutet: Etwa Frank O. Gehrys Guggenheim-Bau in Bilbao, seine Ende der Neunziger entstandenen schiefen Häuser am Düsseldorfer Hafen, oder Libeskinds aktuelle Entwürfe. Will heißen: Nicht alles blieb Träumerei, die Wahnsinnsentwürfe befruchteten zahlreiche spätere Projekte. Und manches wurde schon in den 20er und 30er Jahren ganz einfach realisiert, wie Fritz Högers Chile-Haus in Hamburg oder Bernhard Hoetgers Böttcherstraßen-Ensemble.

Die Expressionisten-Schau inszeniert klug das Gegenüber von völkischen und sozialistischen Architekturvisionen. Denn die Parallelen zwischen Wassili Luckhardts „Denkmal der Arbeit“ (um 1920), einer gigantomanen Mischung aus Kirchturm und Hochofen, und beispielsweise Hugo Höppeners „Reichs-Thinghalle für 30.000 Hörer“ aus dem Jahr 1934 sind nicht nur formalästhetischer Natur. Beide degradieren den Menschen zum ameisenhaften Statisten in einer hierarchisierten Welt. Nicht zufällig ist auch Albert Speers „Lichterdom“ als eine Form imaginärer Architektur mit den expressionistischen Entwürfen verwandt.

In den ideologisch aufgeladenen Zwanziger und Dreißiger Jahren konnte selbst die Entscheidung für das Baumaterial zu einer Glaubensfrage werden: Erdachte man sich die Materialisierung seiner Träume aus Backstein oder aus „himmlischem“ Kristall? An solchen Diskussionen beteiligten sich auch Spinner wie der Schriftsteller Paul Scheerbart: „Das Glas bringt uns alles Helle, verbau’ es auf der Stelle.“ Mit seinen verbauten Versmaßen war Scheerbart wegweisend für die utopischen Entwürfe etwa von Baumeister Bruno Taut. Und in der Lebenspraxis kannte sich Scheerbart auch aus: „Ohne Glaspalast, ist das Leben eine Last.“ Henning Bleyl

von 23.3. bis 8.6.. Öffnungszeiten: Di bis So 11-18 Uhr. Das „Atlantis“-Kino zeigt an den Wochenenden Filme des Expressionismus. Am 29. und 30.3. läuft „Das Kabinett des Dr. Caligari“