Stadtpoesie auch bei Regen

Matthias Rau führt Gruppen für StattReisen. Der Ex-DDR-Bürger hat eine bewegte Vergangenheit – und entsprechend viel zu erzählen. Auf der Weidendammer Brücke stimmt er Biermann-Lieder an

von JULIANE GRINGER

Unruhig tritt Matthias Rau auf dem Pflaster hin und her. Den Blick schon Richtung Norden gewandt, erwartet er, dass sich der Journalistentrupp weiterbewegt. Rau ist Stadtführer für StattReisen Berlin e. V. Der Verein für alternative Stadtführungen feiert morgen seinen 20. Geburtstag. Aus diesem Anlass stellt er in einem kleinen Ausschnitt seines Programms das Areal rund um die Humboldt-Universität vor.

„Nächste Station!“ Das Zeichen für Rau. „Ab zum Maxim-Gorki-Theater“, ruft er und stapft los. „Mendelssöhne & Töchter“ heißt einer der Rundgänge, den er regelmäßig anbietet. In dessen Mittelpunkt steht die Familie Mendelssohn und ihr Bezug zu Berlin und zur ehemaligen Singakademie, in der heute das Gorki-Theater untergebracht ist. Beim Vortragen zeichnet Matthias Rau mit den Armen in der Luft. Begriffe wie „Bachrenaissance“ oder „Bachfuge“ artikuliert er so deutlich, als wolle er, dass sie sich ins Gedächtnis der Teilnehmer brennen, die Namen „Mendelssohn“ und „Fasch“, zischt er regelrecht heraus.

Ob Wind weht, Regen fällt, die Sonne brennt – Rundgänge von StattReisen finden statt, sobald sich vier Interessierte einfinden. „Da hatten wir schon abstruse Situationen, etwa dass bei heftigem Regen sechs tapfere Berlin-Besucher durch Pankow geführt werden wollten, dick eingepackt, mit Cape und Schirm“, sagt Rau. Und nicht nur die Teilnehmer der Rundgänge nehmen einiges auf sich. Vor allem die Führer der Stadtspaziergänge müssen zäh sein. Er habe ein Rückenleiden, beschreibt der 50-Jährige die Auswirkungen seines Berufs. Die schweren Ordner mit Informationsmaterial, die er tragen muss – manchmal führt er drei Gruppen am Tag – tun ein Übriges. „Ich benutze vier verschiedene Taschen, damit der Rücken immer mal Abwechslung hat.“ Aber Rau sieht im Job auf der Straße auch Vorteile: „Ich bin viel an der frischen Luft, das hält gesund.“

Schon vor 1989 machte der Ostberliner Stadtführungen. Damals führte er Freunde und Besucher aus Westdeutschland, die übers Goethe-Institut nach Ostberlin kamen, in das Leben hinter der Mauer ein, zeigte ihnen, dass es eine Subkultur gibt und Leute, die sich gegen den Staat auflehnen. Matthias Rau war selbst involviert, er wohnte in Prenzlauer Berg und war aktiv in der Bürgerbewegung.

„Wenn Stephan Krawzcyk bei Bärbel Bohley zu Hause ein Konzert gegeben hat, waren da natürlich viele scharf drauf. Also habe ich immer mal Freunde dahin mitgenommen.“ Bei seinen Stadtführungen zeigte er, wie Leute in Berlin leben, wie ihre Wohnungen aussehen und was sie essen – auch am eigenen Beispiel. Es konnte passieren, dass zehn Lehrer aus dem „kapitalistischen Ausland“ bei ihm auf dem Sofa hockten, und Rau servierte Käse, Wurst und Meißner Wein. Schon seit Mitte der Achtzigerjahre unternahm Rau die geheimen Führungen. „Es gab einen Treffpunkt, und nur einer aus der Gruppe hatte meine Adresse in der Tasche, falls sie sie an der Grenze kontrolliert würden.“ Die Stasi bekam offensichtlich von alldem nichts mit.

Aufgewachsen ist Matthias Rau im uckermärkischen Templin, in einem religiösen Elternhaus. „Ich wollte gerne Medizin studieren, aber das ging nicht, da ich nicht einschlägig organisiert war“, sagt Rau. Also kam er 1971 nach Berlin, lernte an der Charité Krankenpfleger und wurde schwer enttäuscht: „Was ich dort erlebte, medizinisch wie auch politisch, war skandalös. Das war nichts für mich.“ Drei Jahre studierte er Theologie, brach ab. Immerhin: „Das Wissen von damals nützt mir heute viel bei den Stadtführungen, vor allem wenn ich durchs jüdische Viertel gehe.“ Nach dem Studium hielt er sich mit Jobs über Wasser, bevor er als Ausstellungstechniker bei der Akademie der Künste angestellt wurde. Zur Arbeit ging er damals an den Pariser Platz Nummer 4, direkt auf dem „Todesstreifen“ zwischen Brandenburger Tor und Wilhelmstraße.

Natürlich fließen viele persönliche Erfahrungen in seine Arbeit ein. Bei einer Führung zur „Poesie von Ostwestberlin“ setzt er auf der Weidendammer Brücke unweit des Berliner Ensembles regelmäßig zu singen an und rezitiert Wolf Biermann, den er sehr verehrt. „Die Leute sind immer erstaunt, wenn ich lossinge. Passanten bleiben stehen und schauen zu.“