NRW will Solidarität auf Prüfstand stellen

Ministerpräsident Steinbrück lässt missverständliche Aussagen zum Aufbau Ost dementieren. Doch Verfassungsziel „einheitlicher Lebensverhältnisse“ in Ost und West steht zur Disposition. Grüne: Staatsziel muss erhalten bleiben

DÜSSELDORF taz ■ Peer Steinbrück will das im Grundgesetz verankerte Staatsziel „einheitlicher Lebensverhältnisse“ auf den Prüfstand stellen. Der sozialdemokratische Ministerpräsident setzt sich in der Föderalismus-Kommission von Bundesrat und Bundestag für Reformen ein, die auf ein Ende des seit 1949 gültigen Verfassungsgebots hinauslaufen. Die Düsseldorfer Staatskanzlei bezeichnete zwar einen entsprechenden „Spiegel“-Bericht als „frei erfunden“, doch Steinbrücks bisherige Vorschläge zur Neugestaltung des Bund-Länder-Verhältnisses bedeuten eine Abkehr von den Grundsätzen der alten BRD-Verfassung.

In einem Schreiben an die Vorsitzenden der Föderalismus-Kommission – Franz Müntefering (SPD) und Edmund Stoiber (CSU) – stellt der NRW-Ministerpräsident in Frage, ob „eine generelle Erforderlichkeit zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse für den Bund bestehen kann“. Steinbrück zweifelt angesichts eines zusammenwachsenden Europas, „wie der Bund überhaupt noch eine Kompetenz zur Herstellung oder Wahrung gleichwertiger Lebensverhältnisse eingeräumt bekommen kann“. Zudem fordert der Regierungschef ein Ende des Kompetenzwirrwarrs zwischen EU, Bund und Ländern. Der „Mischmasch“ bei der Gesetzgebung müsse ein Ende haben.

Als der „Spiegel“ Steinbrücks Äußerungen am Wochenende zugespitzt als „Aufkündigung der Solidarität mit dem Osten“ und als „Tabubruch“ bekannt machte, waren die Reaktionen negativ. Ostdeutsche Tageszeitungen stellten Steinbrück gestern als typisch egoistischen West-Politiker dar, trotz des Dementis aus NRW. Konkrete Folge der Steinbrück-Ideen könnte tatsächlich ein Ende der jährlichen Milliarden-Transfers in die neuen Bundesländer sein. Seit Anfang der 1990er Jahre sind fast eine Billion Euro von West- nach Ostdeutschland geflossen. Grundlage der Zahlungen: die Artikel 72 und 106 des Grundgesetzes. Die Formel „Gleichheit der Lebensverhältnisse“ ist die juristische Basis für den Anspruch eines Bundeslandes auf den Länderfinanzausgleich und die föderale Solidarität in Haushaltsnotlagen.

Der grüne Koalitionspartner will die umstrittenen Steinbrück-Äußerungen nicht kommentieren. Generell unterstützen die Bündnisgrünen die Forderung nach einem Ende des Kompetenzwirrwarrs deutschen Föderalismus. Doch am „Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse“ halte man fest, sagt die grüne NRW-Landtagsabgeordnete Edith Müller: “Der Aufbau Ost und die Solidarität mit den neuen Bundesländern stehen nicht zur Debatte.“ MARTIN TEIGELER