BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER
: Die Zeugen schweigen

Leerstelle (1): Neue Serie über abseitige Orte in Berlin. Heute: Die Orte der Kindheit sind beim Wiedersehen sehr viel kleiner geworden

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntägig mit den Nebenstellen des Lebens. Das sind abseitige Orte in Berlin, an die man im Alltag nicht oder selten hinguckt.

Bemerkt man in vertraut geglaubter Gegend, dass etwas fehlt, folgt oft die Überlegung, was andern fehlen würde, wenn man selbst fehlt. Zeit, zum Beispiel, wird mit zunehmendem Alter knapp. Zeit fehlt immer mehr.

Ganz deutlich wird das, wenn man sich an einem Ort der Kindheit wiederfindet, der in der Erinnerung noch ein Zeitreservoir hält, das man gern noch mal zur Verfügung hätte. (Selbstverständlich nur, wenn man was anderes damit anfangen könnte.) Die Orte der Kindheit verändern sich dreifach: real in unserer Abwesenheit, fiktiv in unserer Erinnerung und beides verknüpfend in der Differenz zwischen Erinnerung und Wiedersehen. Alles hat sich verändert, alles ist kleiner geworden. Nie wird man feststellen, dass alles so geblieben ist, weil man selbst, wenigstens in der Wahrnehmung, ein anderer geworden ist. Die stummen Zeugen, auf die sich zu berufen sicher schien, sind vielleicht noch vorhanden, aber sie schweigen ganz anders.

Der Hinterhof, in dem ein Busch schon Garten oder Urwald einschließlich Höhle sein konnte, ist zu dem verkommen, was er immer war: ein Hinterhof mit Busch, bestenfalls Baum. Die Birke, die das Kind mit anderen Kindern zum Kindergeburtstag gepflanzt hat, ist immer noch Birke, aber, erschreckend, ein mächtiger Baum. Selbst das in den Stamm geritzte Monogramm sagt nicht mehr über das frühere Kind, als zwei solche Buchstaben jedem alles oder gar nichts sagen. Die Koordinaten sind noch da, das System ist verrutscht. Wo man als Kind gewesen war, ist die Leerstelle geblieben, die man selbst vor Jahren hinterlassen hat, die man nur selbst erkennt.

Schlimmer wird es, wenn man sicher geglaubte Orte nicht nur nicht wieder erkennt, sondern gar nicht erst findet. Als ich mich einmal an der Regattastrecke Berlin-Grünau wiederfand, schien der Ort eigentlich unverändert, nahm ich die wenigen Zeitgeist-Accessoires aus.

Wo ich an Elternhand die langweiligen Sonntagnachmittage verbummelte, fließt immer noch die Dahme, schwimmen immer noch Boote, tauchen Erinnerungen auf, die ich nach erlebten und erzählten kaum unterscheiden kann. Die Litfaßsäule zum Beispiel mit verblichenen Plakaten beklebt, der Fahnenmast mit müdem Wimpel eines Wassersportvereins beflaggt, der immer noch mächtige Lindenbaum und der Kiosk, der, wenn er tatsächlich damals dort stand, sich zeitgemäß gewandelt hat. Leute, Familien mit Kindern, waren nicht zu finden. Es fand auch keine Veranstaltung statt, die Zuschauer angelockt hätte. Es war leer und öde, wie eben Sonntagnachmittage so oft sind. Säule, Mast, Baum, Bude standen wie zum Ensemble der Verlassenheit arrangiert, was sicher bloßer Zufall war, aber so war’s. Ich überlegte eine Weile, ob ich wirklich hier vor 25 Jahren war und vielleicht am Fahnenmast zu klettern versucht oder Versteck zwischen Kiosk und Anschlagsäule gespielt hatte, ob ich damals schon das einsam ziehende Segel mit Symbolgehalt beladen angesehen hatte, und versuchte das nun meinen Kindern (13 und 3) rückwärts zu übersetzen.

Ich ließ es bleiben und fuhr mit ihnen wieder nach Hause. Ich dachte noch, dass ich ihnen unfreiwillig Anschauungsunterricht gegeben hätte, wie es meinen Eltern (die zwar hier als Kinder nicht gestanden hatten) mit mir gegangen sein muss, und das änderte an allem nichts. THOMAS MARTIN