Im Kraftwerk an der Spree

Das Landesdenkmalamt ist in die Industriebauten an der Oberspree eingetaucht und hat ein Buch zur Denkmaltopographie Oberschöneweides herausgebracht: Ein schönes Geschichtslexikon zur Industriekultur Berlins vom 19. Jahrhunderts bis heute

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Vom Turm des Verwaltungsgebäudes der einstigen Nationalen Automobil-Gesellschaft, die der Architekt Peter Behrens 1913 bis 1917 in Oberschöneweide errichtete, hat man eine wunderbare Aussicht. Bei gutem Wetter liegt die Berliner Stadtmitte zum Greifen nah. Das Panorama dominiert. Dann auf den zweiten Blick verfängt sich die unmittelbare Umgebung im Auge: die Industriekulisse Oberschöneweide entlang der Wilhelminenhofstraße mit ihren riesigen Gewerbehöfen und Hallen, Arbeitersiedlungen und Parkanlagen sowie Niederschöneweide mit seiner verfransten Struktur aus Fabrik- und Verkehrsanlagen.

Es gehörte in den vergangenen Jahren fast schon zum Ritual, wenn auf senatsgeförderten Stadtrundfahrten nach Oberschöneweide Investoren oder „Fachtouristen“ der Blick für das Unmittelbare einen Moment lang abhanden gekommen schien. Im Fokus des baulichen und politischen Interesses lag – und liegt – die Stadtmitte, nicht zuletzt darum, weil der Wert alter Industriekomplexe zur Marginalie wenn nicht gar zum Problemfall herabgewürdigt wurde. Antje Vollmer etwa, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, plädierte neben anderen modischen Urbanisten für den Paradigmenwechsel in der kulturellen Bewertung denkmalwerter Industriearchitekturen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Verbal war das ein gefährlicher Ausfall gegen die große Bedeutung der Industriedenkmale im Osten der Republik und eine längst praktizierte Erhaltungs- und Umnutzungsstrategie westlicher Denkmalpflege. Seither schwingt vereinzelt die Abrissbirne über den Gemäuern.

Das Landesdenkmalamt von Berlin hat dieser Geringschätzung – neben dem Zuspruch für die Einzigartigkeit der Industriekathedralen in Oberschöneweide – nun exemplarisch ein Buch entgegengestellt, das „zum ersten Mal eine kommentierte und illustrierte Denkmalübersicht für die Großstadtregion Nieder- und Oberschöneweide“ vorlegt, wie Jörg Haspel, Chef der Behörde, im Vorwort betont. Zugleich geht es dem Buch und dem Autor Matthias Donath um nichts Geringeres als eine längst bekannte kulturelle Dimension endlich einmal festzuzurren: nämlich um die Darstellung von Nieder- und Oberschöneweide als außergewöhnliches Areal Berlins, dessen Geschichte, Architektur und stadträumliche Entwicklung den Rang eines Industriedenkmals von bundesweiter Bedeutung aufweist.

Nach der Reichsgründung 1871 war Berlin zum demografischen Magneten für Menschen aus dem Umland, Ost- und Südosteuropa avanciert. Die Stadt boomte, baute die berühmt-berüchtigten Berliner Mietskasernen und war zugleich gezwungen, seine Industrieanlagen in „Randlagen“ zu verlagern. Moabit einerseits und andererseits die Gemeinden Ober- und Niederschöneweide, die bis dahin Grün-, Agrar- und Dorfanlagen beherbergten, wurden für die Industrialisierung von Chemie-, Metall- und Maschinenbaufirmen erschlossen. Denn hier waren genug Flächen, insbesondere aber die Spree als Verkehrsweg vorhanden.

Den Aufstieg zur „Elektropolis“ und dem führenden Produktionsort des Kontinents nahm der Bezirk, als sich Verkehrsbetriebe, Kraftwerke und die AEG mit großen Hallen und Fabrikationsanlagen ansiedelten. In den Kabelwerken drehten tausende die großen Spulen, Verseilmaschinen rotierten, Kräne drehten sich, Walzmaschinen dröhnten und Dampfmaschinen sowie später Elektromotoren fauchten.

Emil Rathenau, AEG-Pionier und Industrieboss, erfand nicht nur Zeit sparende und flexible Produktionsmethoden, er und andere Industriemogule legten mit der Gemeinde auch die Grundsteine für die Stadtentwicklung und den Siedlungsbau von Oberschöneweide – heute Dokumente der typischen Berliner Industriekultur.

Das „Geschichtsbuch“ verfolgt den Weg vom Dorf zur Vorstadt akribisch, an dem so berühmte Architekten wie Peter Behrens oder Jean Krämer mit wirkten. Den riesigen Klinkerkathedralen für die Industrie folgten die schmucken Direktorenvillen im Landhausstil, die Kirchen, öffentlichen Gebäude und Parks, die engen Häuser, aber auch die funktionalen Wohnbauten der 20er- und 30er-Jahre. Das Besondere Schöneweides ist seine erhaltene Dichte, seine ökonomische und soziale Funktionalität und bauliche Einzigartigkeit, meint Donath, ein Symbol gewissermaßen.

Und es hat Zukunft. Mit dem Umzug der Fachhochschule FHTW, die dem Gelände nach seinem Niedergang 1989 wieder Aufschwung verleihen soll, wird ein Nutzer genannt, der wirklich für Neuorientierung im Alten steht. Es sollten mehr davon in die Denkmäler folgen – ein Manko des Buchs, für das es selbst nichts kann, aber ein Bewusstsein schaffen könnte, dass dem Abhilfe geschaffen wird.

Denkmale in Berlin, Bezirk Treptow-Köpenick, Ortsteile Nieder- und Oberschöneweide, Michael Imhof Verlag