Ein Mann wie ein Zirkus

Michael Moore erhält einen Oscar für den Dokumentarfilm „Bowling for Columbine“ und ruft: „Schande über Bush!“

Michael Moore hält Hof. Auf der Hotelterrasse am Strand von Cannes warten Gruppen von Journalisten, bis sie vorgelassen werden. Der Regisseur und Publizist („Stupid White Men“) kommt verspätet, den ausladenden Körper hat er in Jeans, T-Shirt und Trekkingsandalen gesteckt. Er beginnt das Interview, indem er den Zustand von Herrentoiletten beklagt, schwenkt dann aber rasch zu seinem Film „Bowling for Columbine“, der im Wettbewerb der 55. Filmfestspiele läuft.

Über die Waffenversessenheit der US-Amerikaner spricht er, das Massaker an der Columbine High School, den Zusammenhang von Angst und Gewalt. Und über den 11. September: „Bush benutzt die Toten dieses Tages als Vorwand, um seine rechte Politik voranzutreiben.“ Über sich selbst sagt er: „Ich bin ein introvertierter, ruhiger Mensch. Ärger kann ich nicht ausstehen, und ich warte immer auf einen anderen, der die Initiative ergreift.“ Ein Fall verfehlter Selbsteinschätzung. Denn Moore liebt Ärger, und er kann es nicht erwarten, die Dinge in die Hand zu nehmen. Gleichgültig, ob es darum geht, den Verkauf von Munition in US-amerikanischen Supermärkten anzuprangern oder dem Schauspieler Charlton Heston nahe zu treten, einem besonders umtriebigen Lobbyisten der National Rifle Association. Moore ist listig, Moore lässt nicht locker, Moore hat das Zeug zum Selbstdarsteller. „Ein-Mann-Agitprop-Zirkus“ hat ihn ein Autor dieser Zeitung einmal genannt, und das trifft die Sache ohne Umweg.

Es liegt also nahe, dass Moore nicht schweigt, wenn ihm ein Oscar verliehen wird. Nachdem er die Trophäe am Sonntagabend (Ortszeit) in Los Angeles entgegengenommen hat, findet er scharfe Worte gegen den Irakkrieg. George W. Bush bezichtigt er des Wahlbetrugs, die Gründe für den Krieg nennt er vorgeschoben. „Wir sind gegen diesen Krieg, Mr. Bush. Schämen Sie sich, Mr. Bush. Schande über Sie!“ Einige im Publikum klatschen, andere gucken versteinert, wieder andere buhen. Und schon legt sich das Oscar-Jingle über Moores Sätze: 45 Sekunden Redezeit stehen jedem für die Dankesworte zu, nicht mehr.

Ist Moore nun die Verkörperung des anderen Amerika? Ein Hoffnungsträger, in dem europäische Kriegsgegner und amerikanische Restlinke die Stimme der Vernunft verorten können? Nicht wirklich. In „Bowling for Columbine“ häuft Moore so viele Informationen aufeinander, dass die Montage weniger der Analyse des gesellschaftlichen Status quo als der Verschwörungstheorie zuarbeitet. Wenn er sich im Dienste der guten Sache selbst inszeniert, so gerät ihm das mal humorvoll, mal selbstgerecht. Und seine Mischung von Empörung und Aufklärung ist Ausdruck eines linken Patriotismus, der in Bushs Ansprachen sein rechtes Spiegelbild findet. „Ich liebe die Leute in meinem Land“, sagt Moore in Cannes. „Ich weiß, wir können es besser machen. Die Aufgabe der Patrioten ist es, Zweifel zu äußern, wo immer es nötig ist, und die Zustimmung zu verweigern, damit es besser wird.“

Vor diesem Hintergrund sind die Auszeichnung und Moores Auftritt nicht in dem Maße als Frontalangriff wider den rechten Konsens zu begreifen, wie es ein „Schande über Bush!“ suggeriert. Eher schon beschreiben sie die Dosis öffentlicher Selbstkritik, die die US-amerikanische Gesellschaft braucht, um sich zu stabilisieren. CRISTINA NORD