Rückschlag für die Autonomen

„Ich erwarte nicht, dass all unsere Forderungen voll erfüllt werden“, sagt der kurdische Politiker „Mein Vater will die Unabhängigkeit, ich könnte auch in einem föderativen Irak leben“, sagt der Student

AUS BAGDAD UND SULEIMANIJA KARIM El-GAWHARY

Iraks Kurden befinden sich im Schockzustand. Das lokale kurdische Fernsehen spielt Trauermusik. Die kurdische Fahne, das allerorten im Norden des Irak sichtbare Symbol kurdisch-nationaler Ambitionen, wurde durch schwarzen Trauerflor ersetzt. Die Menschen versuchen zu begreifen, was die beiden blutigen Anschläge am Sonntag für ihre Zukunft bedeuten.

Zwei mit Sprengstoffgürteln bestückte Selbstmordattentäter hatten sich in der nordirakischen Stadt Arbil in den Büros der beiden großen kurdischen Parteien, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), in die Luft gesprengt. Mindestens 67 Menschen kamen nach letzten Angaben dabei ums Leben, und über 200 wurden verletzt. In den Parteiräumen fanden gerade Empfänge zum muslimischen Opferfest statt. Mehrere hundert Menschen hatten daran teilgenommen.

Laut kurdischem Fernsehen sollen die Attentäter als muslimische Geistliche gekleidet gewesen sein, sodass sie unter den Teilnehmern an den Feierlichkeiten zum islamischen Opferfest keinen Verdacht erregten. Unter den Opfern waren nach kurdischen Angaben auch der Gouverneur von Arbil, Akram Mintik, sowie sein Stellvertreter und dessen beide Söhne. Ferner seien Vizepremier Sami Abdul Rahman sowie mehrere Minister der kurdischen Verwaltung getötet worden. Diese Politiker gehörten alle der KDP an. Die PUK verlor nach eigenen Angaben ihren Militärkommandeur.

Bisher hat sich noch niemand zu dem Attentat bekannt. Doch kurdische Politiker deuten mit dem Finger auf die radikal-islamistische Gruppe Ansar al-Islami, die einst in den kurdischen Gebieten im Norden Iraks ihre Basis unterhielt, im Krieg aber von kurdischen Peschmerga-Kämpfern vertrieben wurde.

Nun steht die Frage im Raum, wie sich diese Anschläge auf die politische Zukunft des Irak auswirken könnten. Es wird befürchtet, dass sich die Kluft zwischen Iraks kurdischer und arabischer Bevölkerung dadurch noch vertiefen könnte. Der Zeitpunkt für die blutige Tat war wohl ausgesucht. Im Moment läuft im Irak eine hitzige Debatte darüber, welchen Raum die Kurden in einem zukünftigen föderativen System einnehmen sollen. Nach dem Golfkrieg 1991 war in den drei nördlichen Provinzen des Irak, Arbil, Suleimanija und Dohuk, eine kurdische autonome Zone geschaffen worden, in der die Kurden de facto unabhängig von Bagdad lebten. Nun geht es um die Frage, wie diese Gebiete wieder in einen Gesamtirak eingegliedert werden können und welche föderativen Grenzen das neue Konstrukt haben sollte.

Bisher herrschte im Irak weitgehende Übereinstimmung darin, die drei rein kurdischen nördlichen Provinzen in Zukunft als geografischen kurdischen Bundesstaat festzuschreiben. Die Kurden verlangen aber, dass auch andere Gebiete, in denen sie die Bevölkerungsmehrheit stellen – oder, vor Saddam Husseins Arabisierung, stellten –, den neuen kurdischen Provinzen zugeschlagen werden. Dabei haben sie insbesondere die erdölreiche Provinz Kirkuk im Blick.

Während die kurdischen Parteien jetzt mit Maximalforderungen aufwarten, ziehen sich Iraks Araber von bereits Vereinbartem zurück. Die Kurden bestehen darauf, dass sie von anderen arabischen Oppositionsparteien gegen Saddams Regime, wie dem schiitischen Obersten Rat der Islamischen Revolution (Sciri), bereits vor dem Krieg Garantien für eine „föderale kurdische Provinz“ erhalten hätten. Aber seit dem Sturz Saddams und der Etablierung eines irakischen Übergangsrats haben sich insbesondere die Schiiten von dieser Position ein wenig zurückgezogen. Sie argumentieren nun, dass die Frage der Unabhängigkeit des Landes im Vordergrund stehen und der ganze Komplex der Föderation erst nach demokratischen Wahlen beschlossen werden sollte. Eine Position, die bei den Kurden, die in einem gewählten Parlament nur eine Minderheit stellen würden, auf großes Misstrauen stößt.

Der Standpunkt der US-Besatzer dazu ist auch unklar. Bisher weigert sich Washington, den Kurden öffentlich Garantien zu geben. In Gesprächen mit den Kurdenführern Massud Barsani und Jamal Talabani wurde ihnen von US-Seite erklärt, dass sie auch in einem föderativen System nicht viel mehr zu erwarten hätten als die drei nördlichen Provinzen, vielleicht sogar weniger.

Auch die benachbarten Staaten mit einer eigenen kurdischen Minderheit sträuben sich. „Wenn es eine föderale Struktur im Irak auf ethnischer Basis geben wird, dann wird die Zukunft sehr schwierig und blutig“, warnte beispielsweise der türkische General Ilker Basbuk jüngst unverhohlen.

Zumindest vor den letzten Anschlägen versuchten kurdische Politiker, nicht noch mehr Öl in die Flammen zu gießen, und zeigten sich pragmatisch. „Ich bin Kurde, aber ich erwarte nicht, dass alle unsere Forderungen voll erfüllt werden. Aber ich erwarte Kompromisse von allen Seiten“, erklärte das kurdische Mitglied des Irakischen Regierungsrates, Mahmud Osman, in einem Interview mit der taz.

„Unsere Gebiete wurden arabisiert, wir wurden vertrieben, und es gab einen Völkermord an uns“, sagt er zurückblickend. Die Kurden hätten an dem Krieg aufseiten der Amerikaner teilgenommen, für sie gebe es keine Rückkehr mehr zum alten Status quo, fährt Osman fort und fordert nicht nur Garantien in der irakischen Verfassung, sondern auch von internationaler Seite. „Ich möchte ehrlich sein: Als Kurde wünsche ich natürlich einen unabhängigen Staat, aber das ist in der gegenwärtigen Situation unrealistisch; also fordere ich unsere Rechte innerhalb des Staates, in dem wir leben“, sagt Osman, der keiner der beiden großen kurdischen Parteien angehört.

Die Gebiete, die heute unter kurdischer Kontrolle sind, sollten das bleiben, die Situation in umstrittenen Gebieten wie Kirkuk müsse sich dagegen erst normalisieren, schlägt er vor. Zunächst sollten die vertriebenen Kurden zurückkehren, dann könne über die Zukunft des Gebiete abgestimmt werden. Generell gelte jedoch, dass sich alle Seiten flexibel zeigen und ihre Probleme im Dialog lösen müssten.

Weit von Osmans gut abgeschirmtem Büro in Bagdad entfernt, an der kurdischen Universität in Suleimanija, lässt sich beobachten, wie schwer das fällt. In der Cafeteria diskutiert eine Gruppe Stundenten zwischen zwei Seminaren leidenschaftlich über ihre Zukunft. Sie sind alle nicht im Irak Saddam Husseins, sondern in der kurdischen Autonomie aufgewachsen und können sich nur schwer vorstellen, wieder von Bagdad aus regiert zu werden. „Wir waren in den letzten zehn Jahren frei, wir haben unsere Region wirtschaftlich entwickelt, und wir leben hier heute, anders als der Rest Iraks, in Sicherheit“, hatte der 21-jährige Englischstudent Haukar Mahmud noch wenige Tage vor den Anschlägen im benachbarten Arbil erklärt.

Tatsächlich herrscht auf den Märkten in Suleimanija Trubel, es gibt keine US-Soldaten, sondern nur die aus Peschmergas bestehende Polizei, keine Operationen der irakischen Guerilla gegen die Besatzung und bis Sonntag auch keine Terroranschläge.

Die Studenten lassen keinen Zweifel daran, was sie wirklich wünschen: einen unabhängigen kurdischen Staat. Kurdische Provinzen in einem föderativen Irak bezeichnet Haukar als ersten Schritt. „Wenn wir jetzt schon unsere Unabhängigkeit fordern, würden wir die Unterstützung der USA verlieren“, glaubt sein Kommilitone Halkat Hussein. Ein Abnabeln vom Irak würde auch zu gewalttätigen Aktionen der Nachbarländer führen, in denen kurdische Minderheiten leben, warnt er. „Unser Problem ist nicht Bagdad, sondern Ankara.“ Die Freunde nicken zustimmend.

Der 23-jährige Rizgar Amin will sich dennoch nicht einfach so abspeisen lassen. „Wenn wir kein föderales System mit unseren Grenzen einschließlich Kirkuk bekommen, werden wir friedlich ein Referendum fordern, und wenn wir das nicht bekommen, werden wir zu den Waffen greifen“, kündigt er an.

„Wir sind keine Araber, sondern eine ganz andere Kultur“, meint Halkat. Er spricht fließend Englisch, wie alle am Tisch. Arabisch hat er nie richtig gelernt. Er hat auch heute kein Interesse daran. „Unsere Eltern mussten die Sprache in Saddams Militär zwangsweise lernen“, sagt er. Und wenn er später in einem geeinten föderativen Irak einen Job als Englischlehrer in Bagdad oder Basra angeboten bekäme? „Was soll ich dort, ich könnte mich noch nicht einmal mit den Leuten dort verständigen“, antwortet er.

Halkar plädiert am Ende dennoch für einen Kompromiss. „Unsere Eltern haben unter den Arabern mehr gelitten als wir. Ihre schlechten Erinnerungen sind in ihnen noch wach“, sagt er. „Mein Vater fordert deshalb einen unabhängigen Staat, ich dagegen könnte auch in einem föderativen Irak leben.“ Nur eines kann sich auch der gemäßigte junge Kurde Halkar nicht vorstellen: ein Zurück zu alten Zeiten, in denen allein das weit entfernte fremde arabische Bagdad über sein Schicksal und seine Zukunft bestimmt.