BENETTON-WERBUNG: ES GIBT RICHTIGE SOZIALKRITIK IM FALSCHEN
: Krass, zynisch, wirkungsvoll

Nein, ein nackter Hintern mit dem Stempel „HIV-positiv“ verletzt die Menschenwürde nicht, hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt: Der Klamottenkonzern Benetton darf mit dem Bild werben, das die Stigmatisierung HIV-Infizierter wenig subtil, aber wirkungsvoll anprangert. Formal-rechtlich ist damit eine der Lieblingsdiskussionen der Warenwelt und ihrer Ästheten zwar beendet. Doch die Frage, ob mit Opfern Kommerz betrieben werden darf, ist deshalb nicht beantwortet. Im Gegenteil: Sie stellt sich täglich neu.

Natürlich ist es zynisch, wenn eine Firma für ihr Produkt damit wirbt, dass sie Aidskranke und zum Tode Verurteilte abbildet. Aber das heißt ja nicht, dass die Bilder selbst ihr kritisches Potenzial verlören. Natürlich muss man ein Bild – todgeweihter Mensch – in seinem Kontext – ich soll Pullover kaufen – verstehen. Aber das heißt ja nicht, dass die Konsumentin nicht auch beides getrennt wahrnehmen könnte. Die Kritik an traurigen Zuständen wird sie womöglich teilen, ohne sich deshalb zum Kauf eines Pullovers bewogen zu fühlen. Dass Benetton unabhängig davon durch die Diskussion insgesamt profitiert, ändert daran nichts. Es gibt richtige Sozialkritik im Falschen.

Im aktuellen Streit über Kriegsfotos wirkt der Benetton-Streit wie ein Probelauf. Natürlich ist es, erstens, zynisch, dass Zeitungen und Sender mit krassen Aufnahmen Auflage und Quote machen. Aber dadurch wird das kritische Potenzial der Bilder nicht neutralisiert. Natürlich ist es für die Redaktionen, zweitens, schwierig zu unterscheiden, welches Bild in propagandistischer Absicht entstanden ist und welches nicht. Die Fotos von irakischen Kriegsgefangenen: nicht drucken, weil man damit Bushs „Alles nach Plan“-Rhetorik unterstützt? Den heulenden kleinen Jungen mit verbundenem Kopf im Krankenhaus: nicht zeigen, weil es Saddam Hussein nützt? Doch. Beides. Weder Gefangenen noch Verletzten wird dadurch ihre Würde genommen. Denn die MedienkonsumentInnen wissen: Opfer bleiben Opfer, unabhängig davon, wer von ihrer Abbildung profitiert.

ULRIKE WINKELMANN