Die Kurden fürchten Rache

Im Autonomiegebiet im Nordirak fliehen die Menschen aus den Ortschaften, die in der Reichweite der militärischen Stellungen des Regimes liegen

aus Suleimanija SALAR BASSIREH

In Irakisch-Kurdistan sind die Menschen wieder auf der Flucht. Diesmal ist es weniger die Angst vor einem irakischen Einmarsch im Autonomiegebiet als vielmehr die Furcht vor einem möglichen Einsatz chemischer Waffen. Eine Erfahrung, die die Kurden in Halabdscha im Jahre 1988 bereits schon einmal gemacht haben. Das Regime behauptet zwar, keine Massenvernichtungswaffen mehr zu besitzen. Doch die Menschen in dieser Region sind misstrauisch.

Besonders entlang der Demarkationslinie zwischen dem Autonomiegebiet und dem von Saddam Hussein kontrollierten Rest des Landes sind zahlreiche Kurden auf der Flucht. Ortschaften wie Kifri und Kalar liegen zudem in der Nähe irakischer Kasernen. Nach Angaben der unabhängigen kurdischen Wochenzeitung Hawlati haben rund neunzig Prozent der Einwohner Kifri und die Stadt Chamchamal verlassen. Einige von ihnen, die Verwandte im Iran haben, gehen illegal über die Grenze, denn die Islamische Republik lässt keine Flüchtlinge einreisen.

Auch in der Region um die Stadt Dohuk im Nordwesten, die nicht weit von Stellungen der irakischen Armee entfernt liegt, haben zahlreiche Menschen ihre Häuser verlassen. Ganze Familien waren in der vergangenen Woche auf Traktoren, offenen Geländewagen und Pkws unterwegs. In Arbil, der größten Stadt im Autonomiegebiet, hatten sich nach Angaben von Hawlati bis Mitte letzter Woche etwa 35 Prozent der Einwohner in sicherere Gebiete abgsetzt.

Auch in Suleimanija im Südosten Kurdistans haben zahlreiche Menschen die Stadt verlassen und sich in die bergige Region an der iranischen Grenze begeben. Die meisten suchen Schutz bei Verwandten in den Dörfern. Viele verbringen dort die Nacht, weil sie nicht im Schlaf von einem Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen überrascht werden wollen und fahren tagsüber in die Stadt zurück – auch, um ihrer Arbeit nachzugehen. Nach den ersten Kriegstagen sind am Wochenende einige Flüchtlinge, vor allem Männer, in ihre Häuser zurückgekehrt. Auf Beschluss der kurdischen Regionalregierung wurde der Unterricht in der Provinz Suleimanija zunächst für eine Woche eingestellt und die Schulen geschlossen. Nur die Krankenhäuser und das Innenministerium arbeiten.

In der Erdölstadt Kirkuk, die außerhalb des Autonomiegebietes liegt und damit von der irakischen Armee kontrolliert wird, ist die Lage besonders dramatisch. Tausende Kurden wurden dort vertrieben. Sie retteten sich in das Autonomiegebiet. Obwohl die Regionalregierung von Suleimanija einige Zeltlager für diese Vertriebenen errichtet hat, schlüpfen die meisten von ihnen bei Verwandten in den Dörfern unter. „Sie haben weniger Angst vor den Kanonen des Regimes als vor einem Giftgaseinsatz“, fasst ein Gesprächspartner die Stimmung seiner Landsleute zusammen. Je näher das Ende des Regimes von Saddam Hussein rückt, so ihre Befürchtung, desto härter könne seine Rache sein. Ein Szenario, das eine weitere Fluchtbewegung auslösen könnte, wäre ein Einmarsch der türkischen Armee im Norden des autonomen Kurdistan. Dann könnten zahlreiche Menschen zwischen die Fronten geraten. Im Gegensatz zum letzten Golfkrieg 1991, als zwei bis drei Millionen Kurden in die Nachbarländer flüchteten, möchten die meisten diesmal im Lande bleiben. Deshalb gibt es auch keine genauen Zahlen darüber, wie viele Menschen derzeit auf der Flucht sind.

In Kurdistan kursiert folgende Geschichte: 1991 habe Saddam Hussein mehrmals gesagt, wer ihn ablösen wolle, werde nur Schutt und Asche vorfinden. Daher befürchten viele, dass ihnen das Schlimmste noch bevorsteht.