Leinwand zu Leinwand

Ganz ohne Mystifizierungen: Henri-Georges Clouzot verbrachte für seinen Film „Das Wunder Picasso“ drei Monate mit dem Maler und beobachtete ihn – gestützt durch ein einzigartiges Verfahren – bei der Arbeit

Dokumentarfilme über Künstler tendieren dazu, einen bestimmten schematischen Aufbau zu verfolgen. Der Künstler wird interviewt, es werden Familie, Freunde und Kritiker zu Wort gebeten, Stationen seines Lebens gezeigt, und exemplarische Werke runden den Einblick in die Künstlerseele ab.

Der Filmemacher Henri-Georges Clouzot, der sich zuvor mit Thrillern wie Lohn der Angst und Die Teuflischen einen Namen gemacht hatte, wählte in seinem 1956 entstandenen Dokumentarfilm einen anderen und ungewöhnlicheren Ansatz. Um Einblick in die Arbeitsweise eines der berühmtesten Maler des 20. Jahrhunderts zu geben, verbrachte der Regisseur über drei Monate mit seinem Freund Pablo Picasso in einem Studio und filmte den Maler bei seiner Tätigkeit. So zeigt Das Wunder Picasso (Le mystère Picasso) nicht das übliche Künstlerporträt, sondern Clouzot konzentriert sich, ohne zu kommentieren, völlig auf den künstlerischen Enstehungsprozess. „Ich muss die Bilder transparent machen“, ist einer der wenigen gesprochenen Sätze in dem Film und zugleich dessen Essenz.

Picasso, der 1956 in Cannes mit dem Spezialpreis ausgezeichnet wurde, zeigt die Genese des Kunstwerkes, macht den kreativen Enstehungsprozess, der dem Betrachter eines Bildes im Museum völlig verborgen bleibt, durchsichtig und nachvollziehbar. Der Maler sitzt vor einer einer transparenten Spezialleinwand, auf der anderen Seite befindet sich die Kamera, die jeden Pinselstrich festhält. So wird aus der Kinoleinwand die Leinwand des Künstlers.

Scheinbar willkürliche Striche verwandeln sich nach und nach in durchdachte Kompositionen. Die Bilder durchlaufen Metamorphosen, Ebenen werden übermalt, Farben gewechselt, bis Picasso, wie er sagt, „den Kern der Sache“ getroffen hat. In über 70 Minuten entstehen an die 20 Bilder, zum Teil in Echtzeit, zum Teil im Zeitraffer wiedergegeben. Bestimmte Motive kehren immer wieder – der Stierkampf, das Pferd, die nackte Frau. Untermalt von der Musik des Komponisten Georges Auric, wird jedes Bild begleitet von einer eigenen Komposition, die den Charakter des Bildes widerspiegelt.

Nur zweimal unterbricht Clouzot das reine Abfilmen der Leinwand und wechselt die Perspektive. Der Zuschauer sieht nun den Raum, Picasso mit nacktem Oberkörper hinter der Leindwand, sehr präsent und energetisch, die Kamera im penibel ausgeleuchteten Raum. Der Zuschauer wird an diesem Punkt zum Beobachter des Beobachtenden. Hier eröffnet sich noch eine weitere Dimension des Films, nämlich dessen zeitliche Begrenzung. So weist der Kameramann darauf hin, dass nur noch für fünf Minuten Filmmaterial vorhanden ist, und Picasso muss in diesem zeitlichen Limit sein Bild beenden.

Angeblich hat Picasso die Bilder, die er während der Entstehung des Films malte, alle zerstört. Letzterer bleibt derart ein einzigartiges Dokument und eine hochinteressante Verbindung zweier visueller Medien. Statt ein Malergenie zu mystifizieren, trägt der Film ein großes Puzzlestück auf dem Weg zum Verstehen bei. Myrjam Lammer

Di, 17 Uhr, Mo, 7.4., 21.15 Uhr (mit Einführung von Thomas Tode), Di, 8.4.,17 Uhr, Metropolis