Bei Nebel in die Koje

Durch den Mythos vom knallharten Seebären werden Schwächen an Bord nicht akzeptiert. Nach Unglücken traumatisierte Seeleute werden mit ihrem Problem allein gelassen. Die Hochschule hilft

Groß, stark und selbstsicher soll der Seebär sein – leider nur ein Mythos

taz ■ Ein Knirschen, ein Knall, ein Schrei. Im Maschinenraum ist ein Dampfrohr geplatzt, kochend heißer Wasserdampf spritzt. Der Maschinist ist getroffen, 90 Prozent seiner Haut verbrühen. Der nautische Offizier, an Bord für ärztliche Versorgungen zuständig, pflegt den lebensgefährlich Verletzten. Doch der Maschinist stirbt, kurz nachdem er an Land kommt. Der Offizier bleibt an Bord zurück – allein mit der Katastrophe.

Immer wieder erscheinen die Bilder des Unglücks vor seinen Augen. Vorwürfe quälen ihn, den Maschinenraum, den Ort des Unglücks, meidet er in Zukunft.

Der Hamburger Schifffahrtspsychologe Hans-Joachim Jensen nennt solche traumatischen Reaktionen „Flashbacks“ und „Vermeidungsverhalten“. Weitere mögliche Folgen: Nervosität oder „Gefühlsstupor“ – zu deutsch Gefühlstaubheit.

Probleme, die gar nicht zum Ruf des Seemanns passen wollen. Groß, stark, selbstsicher soll er sein. Die Matrosen nennen ihren Kapitän sogar „Master next God“. So heißt es in Jensens Aufsatz „Mythos Kapitän – Führung zwischen Anspruch und Wirklichkeit“.

Aber: Auch der Seemann ist nur ein Mensch – das war gestern Thema beim Workshop „Traumatische Ereignisse in der Seeschifffahrt“ an der Hochschule Bremen. Jensen erzählte, dass schon die Begegnung mit einer Riesenwelle oder eine im letzten Moment verhinderte Kollision psychische Probleme bei Matrosen hervorrufen können.

Deshalb sollten Kapitäne in Zukunft schon bei der Ausbildung mehr Kompetenz im Umgang mit solchen Ereignissen bekommen. „Es muss eine gewisse Sensibilität hergestellt werden“, stimmte Kapitän und Hochschullehrer Willi Wittig zu. Die sei derzeit vor allem bei den Reedereien eher gering. „Wer zur See fährt, muss das aushalten“, sei deren Credo.

Psychisch angeschlagene

Crewmitglieder können das ganze Schiff und damit auch die Mannschaft in Gefahr bringen. Wittig erzählt von einem 1. Offizier, der bei Nebel von der Brücke verschwand und sich dann in seiner Koje einschloss. Die Ursache: Einige Jahre zuvor waren bei einer Kollision seines Schiffes mit einem kleinen Boot in dichtem Nebel drei Menschen umgekommen. Dieses Verhalten erschien den anderen zwar seltsam, Konsequenzen gab es aber keine.

In der Hochschule sollen zukünftige Kapitäne auf das Dilemma aufmerksam gemacht werden. Sie bekommen keine umfassende psychologische Ausbildung an die Hand, nur „Handlungsempfehlungen“, sagt Wittig. Ob diese unter Stress abrufbar sind, bleibt allerdings fraglich.

Deshalb trainieren angehende Kapitäne an der Hochschule bis zu 90 Stunden in Simulatoren. Wichtig ist, dass die Kapitäne Betroffenen bei der Verarbeitung des Schocks helfen können. „Der Kapitän muss sagen: Wir bieten dir ein offenes Ohr“, fordert Wittig. „Merkwürdiges“ Verhalten müsste hinterfragt statt hingenommen werden – immerhin geht es um Menschenleben.

Dazu kommt ein kulturelles Problem: Heute besteht ein Gros der Crew aus ausländischen Seeleuten, vor allem aus Ostasien. Sie können schon Situationen erlebt haben, die für westliche Kapitäne nur schwer nachzuvollziehen sind – beispielsweise ein Piratenüberfall. Auch solch ein Überfall kann Auslöser einer „traumatischen“ Reaktion sein, erzählt Jensen.

Meistens sind die Traumata in einer Therapie heilbar. Dank der Schifffahrtspsychologen. Jensen sagt: „Nur in den seltensten Fällen“ sei die psychische Belastung so stark, dass die Matrosen berufsunfähig werden.

Gerrit Koy