Ineinander von Ideologie und Habgier

Der Hamburger Autor und Theatermacher Michael Batz hat seine szenischen Lesungen nun als Buch herausgebracht. Es zeichnet ein beklemmendes Bild vom Schicksal der Insassen der Alsterdorfer Anstalten in der Nazizeit

„Ihr Heiligen, nehmt doch eure Hauben ab, runterschlagen müsste man sie.“ Auf widerständige Sätze wie diesen stieß der Hamburger Theatermacher und Autor Michael Batz bei der Durchsicht von Krankenakten aus den Alsterdorfer Anstalten. Akten der Jahre 1943/44. Sätze jener, die aus dem „gesunden Gefüge“ der Gesellschaft fielen, weil sie körperlich oder geistig behindert waren. Doch erst unter der Ideologie der Nationalsozialisten sprach man ihnen ihre Daseinsberechtigung ab. Die Alsterdorfer Anstalten wandelten sich zu einem grauenvollen Ort, von dem aus es für viele in den Tod ging.

Über 500 Kinder und Frauen sind aus Alsterdorf deportiert und in den Tötungsanstalten der „Euthanasie“ ermordet worden. Im August 1943 wurden 228 Frauen und Mädchen nach Wien deportiert. 196 wurden durch Hunger und Todesspritzen getötet, 14 Mädchen durch qualvolle Experimente in der „Kinderfachabteilung“ „Am Spiegelgrund“. „Spiegelgrund und der Weg dorthin“ lautet deshalb eines der fünf Dokumentarstücke, die Batz im Auftrag der Hamburger Bürgerschaft verfasst und in szenischen Lesungen aufgeführt hat. Nun sind alle Stücke unter diesem Titel in einem Buch zusammengefasst, das der Autor im Literaturzentrum vorstellt. Fünfmal ist er in Archive gestiegen, hat Unmengen von Akten durchforstet, um anhand verschiedener thematischer Schwerpunkte sichtbar zu machen, wie der Holocaust in Hamburg gewirkt, wie er funktioniert hat.

Der Schrecken wird konkret, wenn den abstrakten Zahlen Individuen gegenüber gestellt werden: Opfer und Täter bekommen Namen. Manchmal auch eine Adresse. Wie in „Betr.: Ehem. Jüd. Eigentum“, wo es um die Aneignung des Besitzes emigrierter und deportierter Juden geht. All die Dinge, zwischen denen Curt Israel Aschenheim gelebt hat, sind zu Schnäppchenpreisen versteigert worden und nun verstreut in 26 Hamburger Haushalten: „1 Tischlampe an H. Grindelweg 1a (…) 1 Commode an M. Colonnaden 5“, eine lange Liste.

In der Komposition authentischer Dokumente und eingeflochtener kommentierender Stimmen entsteht das beklemmende Bild eines reibungslosen Ineinandergreifens von Ideologie und geschäftlicher und privater Habgier; von dem, was plötzlich möglich und normal war, profitierten viele. Für Batz ist eine „künstlerische Aufarbeitung“ die einzige Chance, Erinnerungen wach zu halten und „einen emotionalen, lebendigen Erfahrungstransfer über Generationen sicherzustellen“. In allen fünf Stücken ergreift er diese Chance auf sehr eindringliche Weise. Die szenische Lesung ist auch auf CD zu bekommen.

Carola Ebeling

Michael Batz: Spiegelgrund und der Weg dorthin. Holocaust in Hamburg. Fünf szenische Lesungen. München/Hamburg: Dölling & Galitz 2003, 228 S., 14,80 Euro. Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38