In die Finsternis hinaus

„Wir wünschen uns, dass diese Nacht nie zu Ende geht“: Der amerikanische Autor Stewart O’Nan las im Potsdamer Waschhaus aus seinem neuen Roman „Halloween“

Es kann gut sein, dass Stewart O’Nans Geister mit dabei sind. Schwarze Finsternis, feuchte Luft, Riesenpfützen im sandigen Brandenburger Boden – das richtige Klima für Untote wie er sie in seinem neuen Roman „Halloween“ beschreibt. Im Waschhaus Potsdam wäre es nicht überraschend, wenn plötzlich Kürbisgesichter und dunkle Gestalten mit schwarzen Umhängen auftauchen würden.

Im großen Saal des „Waschhauses“ steigt das Geplapper und Gekicher zu beunruhigender Lautstärke an. Eine junge Frau unterhält sich mit ihrer Mutter. Die Brandenburger Hausfrau mit Karohemd und blondem Kurzhaarschnitt schweigt – sie ist allein gekommen. Ältere, gut gekleidete Ehepaare halten Gläser mit Rotwein.

Endlich die Ankündigung O’Nans. Es folgt eine Einführung in sein Werk – vorgetragen von Sigrid Löffler. Von „narrativer Struktur“, dem „ästhetischen Anliegen des Autors“ und der „creative writing school“ ist die Rede. Löfflers Einführung driftet ab. Ob das jemand braucht? Die völlige Stille der Zuhörer lässt zumindest nicht auf Desinteresse schließen. Der Publikumsbereich ist dunkel, alle Stühle sind besetzt. Das Podium ist in blaues Licht getaucht. Wann lässt er sich blicken? Wie tritt er auf?

Als Stewart O’Nan auf der Bühne Platz nimmt, ist man sofort begeistert: ein smarter Amerikaner. Ein Grinsen am Start, Blickkontakt mit dem Publikum, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Er wirkt sehr sympathisch: Rundes Gesicht mit hohen Geheimratsecken. Ganz ohne Starallüren tritt er auf, unauffällig, in heller Hose und in hellem Hemd. Dann legt er los, erzählt, wie ihm die Idee für „Halloween“ kam. In der Zeitung las er von dem Autounfall Jugendlicher, von denen nur zwei überlebten. Ein Jahr später begingen die Überlebenden Selbstmord. Dies passierte in Stewart O’Nans Nachbarort.

Seine warme Stimme erfüllt den Raum, schlägt alle Untoten in die Flucht. Noch intensiver kommt seine Stimme, als er mit der Lesung beginnt: Mit dem Lockruf, der sein Buch eröffnet. „Na, hörst du das? Der Wind – wie er unter der Dachtraufe rauscht und die kahlen Bäume streift … Na dann los, komm mit uns in die Nacht hinaus.“ Es ist eine Einladung, sich ganz auf die Geschichte einzulassen. Man schmilzt dahin, die Worte klingen wie Musik aus Stewart O’Nans Mund. Das letzte Wort nimmt den nächsten Satzanfang behutsam auf. Alle Laute scheint er stimmhaft zu sprechen. Es soll nie enden! Der Ohrenschmaus wird zu einem neuerlichen Höhepunkt getrieben, wenn Christian Brückner einsetzt. Sein sonores Timbre, die deutsche Synchronstimme des noch immer erotischsten Mannes Hollywoods – Robert De Niro –, zwingt einen in die Knie. Allerdings hat er mit der deutschen Sprache die schlechteren Karten. Sie kommt lang nicht so musikalisch daher, eher stockend. Mit dem letzten Kapitel des Buches beendet Stewart O’Nan die Lesung: „Wir wünschen uns, dass diese Nacht nie zu Ende geht.“ Wohl wahr.

Wie schade, dass dann wieder Sigird Löffler die Bühne betritt und einen einen zurück auf den Boden holt. Die Zuhörer haben kaum Fragen, Löffler hat sie alle vorweggenommen. Besser schnell gehen, damit die Stimmen im Ohr bleiben. Auf dem Weg zum Bahnhof durch leere Potsdamer Straßen fühlt man sich wieder verfolgt von den Geistern der halbtoten Jugendlichen aus „Halloween“. Zwei Jungs zertrümmern eine Flasche, Autos rasen vorbei. So trist wie in einer amerikanischen Vorstadt, genau so, wie man sich Avon vorstellt. Erst in den Bahnhofspassagen ist Leben. Da drängen sie sich wieder auf, die Worte Stewart O’Nans: „Also komm, Freund, Fremder, Geliebter, Nachbar. Komm aus deinem behaglichen Zimmer … komm in die kühle Nacht hinaus.“ ANDREA EDLINGER