Antikörper im Getriebe

Die Retrospektive der Berlinale widmet sich dem Kino des „New Hollywood 1967–1976“. Das Politische wurde hier nicht als Hintergrund für Fiktionen gezeigt, es fungierte als deren Auslöser

New Hollywood scheint um zwei Schauspieler zu kreisen: Jack Nicholson und Warren Beatty

VON HARALD FRICKE

Das System war am Ende. Als 1964 die Oscars vergeben wurden, erhielt Joseph L. Mankiewicz’ „Cleopatra“ lediglich vier Auszeichnungen, alle in Nebenkategorien. Beste Ausstattung, beste Kamera, beste Kostüme, beste Effekte. Sonst nichts, kein Oscar für Elizabeth Taylor, für Richard Burton oder Rex Harrison, nicht einmal für Regisseur Mankiewicz, der sich mit dem Film zweieinhalb Jahre abgemüht hatte. Denn „Cleopatra“ wurde zum 44 Millionen Dollar teuren Flop. Die ungeheuren Produktionskosten, auf heutige Verhältnisse umgerechnet fast 290 Millionen Dollar, stürzten 20th Century Fox so schwer in die Krise, dass große Teile ihrer Studios fortan leer standen oder abgerissen wurden.

Seither geht die Legende, das Scheitern von „Cleopatra“ sei die Geburtsstunde für New Hollywood gewesen. Da sich Mammutprojekte nicht länger auszahlten, mussten neue Märkte erschlossen werden, zumal das Fernsehen, dieser sanfte Gigant, bereits einen Filmstar nach dem anderen gefressen hatte. Die Lösung lag am Straßenrand: Autokinos waren für das voll motorisierte weiße Amerika gut zu erreichen, sie brauchten keine teuren Ausstattungen – die Leute brachten den Kinosessel ja gleich mit. Außerdem galten sie als perfekter Treffpunkt, wo Teenagerpärchen ungestört fummeln konnten.

Also wurde in den Nachwuchs investiert. Mitte der Sechziger gab es in den USA an die 5.000 Autokinos und mit Roger Corman einen Produzenten/Regisseur, dessen Filme genügend Erregung lieferten, dass es auch mit der Begleitung klappte: Werwolfhorror, Untotentrash, schnell waren da Arme schützend um Schultern gelegt, auf der Suche nach mehr.

Freimütig hat Corman in Interviews erklärt, dass es ihm um Exploitation ging. Die Jugend wollte abgedrehte Spukschlossherren sehen, also bekam sie Boris Karloff. Später wurden daraus blutrünstige Motorradgangs und wirre LSD-Tripster, die Peter Fonda, Dennis Hopper oder Jack Nicholson in den Stand von B-Movie-Stars erhoben, bevor Corman seine Schützlinge (dazu gehörten auch Scriptwriter und Filmemacher wie Francis Ford Coppola oder Peter Bogdanovich) am Set nach Drehschluss experimentieren ließ – und als Ergebnis irgendwann „Easy Rider“ vorlag. Als der Film in Cannes 1969 eine Extrapalme für das beste Spielfilmdebüt erhielt, war sein Regisseur Dennis Hopper langhaariger als Jesus, und der Sommer der Liebe sollte bald im Winter von Altamont ein Ende finden.

Der Erfolg für New Hollywood aber fing erst an; verzweigte sich in überspannte Selbstfindungsdramen, existenzialistische Gewalt-Western, Neo-Noir-Detektivstories und politische Dokumentarismen; franste zu wortkargen Roadmovies und kaputten Vietnam-Heimkehrer-Filmen aus und landete mit Coppolas „Godfather“ und Spielbergs „Jaws“ dort, wo Mehrheiten gemacht werden: im Blockbuster-Kino. Das alles wird mit der Retrospektive zur Berlinale noch einmal sichtbar gemacht. It was a very good time, 1967 bis 1976.

So weit der Blick vom Feldherrnhügel. Doch der Film, den man von dieser Tour de Force, die sich auf dem Rücken von Pferden, in schnellen Ford Mustangs oder zu Wagner-Musik in Militärhubschraubern abgespielt haben soll, im Kopf behalten hat, sieht anders aus. Weniger stromlinienförmig und oft gar nicht mal nach Kino. Die lechzend rot von Speed leuchtenden Stores der Downtown-Straßen vermischen sich mit den schnellen Momentaufnahmen auf Fotos von William Klein; die staubig weiten Landschaftspanoramen kommen einem von Ansel Adams Naturstudien her bekannt vor; die aufgebrachten Demonstranten der Dokus sehen im milden Korn des Schwarzweißmaterials aus, als hätte sie Gerry Winogrand bereits fotografiert. Über allem schwebt Andy Warhol, als sektiererische Boheme-Figur und als Pop-Artist. Auch das ist New Hollywood: eine Rückübertragung der Kunst gewordenen Alltagskultur in das ohnehin viel populärere Medium Film.

Deshalb: Zurück auf Start, in die Zeit um 1960. James Dean ist tot, John Houston dreht mit einer von Tabletten bis ins Mark aufgeweichten Marilyn Monroe, dem herzkranken Clark Gable und einem zickig nervösen Montgomery Clift sein Cowboy-Melodram „Misfits“. Der Film ist die Dead End Street des amerikanischen Traums. Das freie Leben ist eine Schimäre, der Rodeoreiter und geschiedene Ehefrauen verzweifelt hinterherjagen: Nicht gesellschaftsfähig zu sein, zeugt von keiner heldenhaften Ausnahmestellung, sondern ist das Resultat der verhärteten Verhältnisse aus Modernisierung, Profitmaximierung und Verstädterung im Atomic Age. Kein Western kann hinter diese „Misfits“-Erfahrung zurück, von den untergangsgeweihten Banditen in Sam Peckingpahs „The Wild Bunch“ bis hin zu Robert Redford als präriehistorisches Fossil in „Der Elektrische Reiter“.

Auch die Outlaws, die mit Motorrädern durch Amerika unterwegs sind, haben keine Zukunft, nicht einmal Gegenwart. Mag sein, dass Fonda und Hopper in „Easy Rider“ eine Reinkarnation von Marlon Brando als „The Wild One“ waren. Aber die Rockergangs stellten schon in den Fünfzigern kein Kollektiv auf der Suche nach einer besseren, alternativen Community dar. Es war der Koreakrieg, der haufenweise Soldaten an die Westküste gespült hatte, die nun nicht wieder zurück in die Gesellschaft fanden. Der Ausstieg kam notgedrungen, die Härte innerhalb der Gangs war mit ihren Regeln aus Drill und Hierarchie eher ein Ersatz für das verloren gegangene Militärleben. Von dieser Nostalgie zeugt auch der Spitzname, den Fonda in „Easy Rider“ trägt: Captain America. Der Krieg in Vietnam wird viele solcher gestrauchelten Kreuzritter schaffen, die dann in Michael Ciminos „Deer Hunter“ oder in Martin Scorseses „Taxi Driver“ die Welt nur noch durch das Visier ihrer Waffen wahrnehmen können.

Entsprechend stolpert man in „Easy Riders, Raging Bulls“, Kenneth Browsers filmischer Biografie des New-Hollywood-Kinos, über einen Satz der Schauspielerin Karen Black, als sie sich an die ersten Aufführungen von „Easy Rider“ erinnert: „Auf einmal stellten die Leute fest, dass da Figuren auf der Leinwand zu sehen waren, die eben nicht nur kifften, sondern Werte, echte Werte hatten.“ Im Katalog zur Retrospektive gräbt sich Diedrich Diederichsen auf dieser Spur durch die Sixties, wenn er deren Outlaws und überhaupt das Radikalwerden der Gegenkultur „als einen Aufstand gegen Amerika im Namen eines anderen Amerika“ entlarvt. Bob Dylan, Grateful Dead, Kris Kristofferson, The Band – nie war so viel Country-Musik im Kino zu hören wie in den Sechzigern, nie wurden Americana so sehr zum Symbol für die Hoffnung auf ein Umschreiben der Geschichte.

Dieser Prozess ist eine zwiespältige Angelegenheit: Er führt zu linken Bürgerrechtsprojekten, die im Zentrum politisierter Filme wie Haskell Wexlers „Medium Cool“ (1969) stehen, wo Robert Forster in der Rolle eines Fernsehjournalisten die shocking truth der afroamerikanischen Ghettos entdeckt. Auch sonst ist in „Medium Cool“ einiges in Bewegung, schließlich wurde der Film kurz nach der Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy während des Demokraten-Konvents in Chicago 1968 aufgenommen – protestierende Yippie-Aktivisten und Polizeikommandos inklusive. Plötzlich bildet Kino nicht reale Geschehnisse ab, sondern fängt in seinen Bildern auch deren öffentliche Inszenierungen ein und überzeichnet sie mit Eigensinn, wie Grafitti auf einer Häuserwand. New-Hollywood-Filme sind voller found footage, sie zeigen Vietnamkrieg und Riots nicht als Hintergrund für Fiktionen, sondern als deren unmittelbaren Auslöser.

Kunst gewordene Alltagskultur kehrt in das ohnehin populärere Medium Film zurück

Aber führen umgekehrt die anderen Shootings vom Gun-Fight des Western und von massenmordenden Rebellen à la Martin Sheen in „Badlands“ (1973) tatsächlich nach Oklahoma und Waco? Diederichsen jedenfalls führt den für ihn unterschwellig reaktionären Habitus des Outlaw-Amerika auf eine mangelnde soziale Anschlussfähigkeit zurück, die von Bikern und Truckern bis zu den rechten Survivalisten der Neunziger reicht. Selbst Hustler und Junkies mit ihren „coolen Kommunikationsstörungen“, denen man im Kino von New Hollywood häufig begegnet, stehen für Diederichsen in der Tradition jener Siedler, die sich vom Gemeinschaftsleben während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert losgesagt hatten. Durch Tune-in zum Drop-out: Als New Yorker Straßendealer ist Al Pacino in Jerry Schatzbergs „The Picnic in Needle Park“ (1971) nur auf Heroin ganz bei sich.

Vielleicht liegt es an dieser dann doch extrem stilisierten Fantasie von der Freiheitsliebe des kleinen Mannes, dass in „New Hollywood“ Frauen nur am Rande vorkommen, als dekoratives Detail im Weltbild. Selbst für Robert Altman ist Sally Kellerman in „M.A.S.H.“ als Major „Hot Lips“ O’Houlihan nichts anderes als eine Hysterikerin, die für Lacher sorgt: nackt unter der Dusche, das muss als Bloßstellung der täglichen Truppen-Idiotie in Vietnam genügen. Auch Karen Black sind die Figuren auf den Leib geschrieben, als sexy Beischlafobjekt für Nicholson, Kristofferson und Co.; dabei hatte sie im Laufe der Jahre mit über 130 Film- und TV-Rollen doppelt so viele Auftritte wie ihre männlichen Counterparts.

New Hollywood scheint ganz und gar um zwei lichtgestaltartige male actors zu kreisen: Jack Nicholson und Warren Beatty. Beide sind von einer faszinierenden Regungslosigkeit geprägt, die Nicholson zu Mienen und Gesten der Verachtung hochschraubt, mit denen er Amerika den Rücken kehrt, gerade indem er in jedes seiner Gesichter schaut. Das macht sein zerfurchtes Jedermann-Antlitz zur Projektionsfläche des Nicht-einverstanden-Seins: Weil er zutiefst das System ablehnt, kann er darin funktionieren wie ein Antikörper im menschlichen Getriebe. So passt es, wenn er in Hal Ashbys „The Last Detail“ (1973) den straffällig gewordenen Kadetten (Randy Quaid) ins Militärgefängnis überstellt, nachdem er auf einer Sauftour dessen letzte Tage in Freiheit genossen hat, als wären es seine eigenen gewesen. Eine bessere Charaktermaske, in die Amerika vor den selbst auferlegten Zumutungen schlüpfen kann, gibt es nicht.

Beatty dagegen ist innerlich im Widerstand und von außen glatter als jede Spiegelglasfassade. Seine Dissidenz durch Smartheit gibt New Hollywood das gewisse Popappeal und macht gleichzeitig die Kluft zur Nixon-Generation spürbar. Beatty trägt mit einem spöttischen Lächeln den Look des young America zur Schau, das sich von der Zwangslogik aus Kaltem Krieg, Rassenhass und Gods Own Country emanzipiert hat. Dass er in Alan J. Pakulas Verschwörungsthriller „The Parallax View“ 1974 den investigativen Reporter spielt, ist stimmig, auch wenn er am Ende stirbt: Der Neubeginn nach Watergate soll nicht von althergebrachten Oppositionen und Feindschaften überschattet sein. In Beattys überlegener Gleichmut triumphiert ein moderner Pragmatismus – Tendenz Mitte –, auf den sich linksliberale Anzugträger heute noch gerne berufen. Vor allem aber muss Beatty nicht mehr zu Pferden flüstern wie Heerscharen von einsamen Hollywoodhelden vor ihm. Er weiß sogar, was Frauen wünschen, das sieht man in „Shampoo“.