DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Die Langlaufloipe am Hölderlinturm

Nach drei bewegungsarmen Tagen gelang Dieter Baumann der späteste Trainingslauf seines Lebens

Der Wald war nahezu unbelaufbar, die Straßen waren vereist, und die Luft stand unter arktischem Einfluss. So könnte man die Laufbedingungen der letzten Woche in Deutschland beschreiben. Allerdings sind das immer noch keine Gründe, ganz auf das Laufen zu verzichten, schließlich kann man immer und überall laufen. Nun, um ehrlich zu sein, trotz dieser grundsätlichen Überzeugung hatte ich große Schwierigkeiten, rauszugehen.

Unter läuferischen Gesichtspunkten ist die vergangene Woche schnell zusammengefasst: Montag kein Lauf – den ganzen Tag irgendwelche Termine, dadurch am Abend zu müde und unheimlich schlapp.

Dienstag kein Lauf – wegen leichten Schneefalls, ich musste den Gehsteig räumen und überzeugte mich aus nächster Nähe: zu rutschig. Außerdem war ich danach völlig erschöpft.

Mittwoch kein Lauf – der SWR-Wetterfrosch warnte im Radio vor einem unglaublichen Schneesturm. Ich deckte mich mit den nötigsten Lebensmitteln ein und machte keinen Schritt mehr vor die Haustür. Allerdings zog der Schneesturm dann an Baden-Württemberg vorbei.

So enden gute Vorsätze, deshalb sollte am Donnerstag alles anders werden. Die mittlerweile verstaubten Laufschuhe mussten aus dem Schrank, komme, was da wolle. Aber dann verging auch Donnerstag ohne große Höhepunkte – sehen wir von den märchenhaften Schneelandschaften ab – und wieder ohne einen einzigen Laufschritt.

Um 21 Uhr wurde ich unruhig. Mein schlechtes Gewissen meldete sich und fragte: Heute noch laufen? Kurz nach 22 Uhr folgte ich meinem inneren Gefühl, und so gelang mir der späteste Traininglauf meines Läuferlebens. Mit drei Schichten Kleidung bepackt, machte ich mich auf den Weg hinaus in die kalte, klare Nachluft. Ideal für einen ruhigen Dauerlauf. Endlich Bewegung, endlich tief durchatmen. Keine faulen Ausreden mehr. Schon die ersten Schritte waren ein Höhepunkt. So zottelte ich durch die dunklen Gassen von Tübingen bis zum Neckar, dann hinaus aus der Stadt. Die Gehsteige waren geräumt, nur an den Rändern lagen sauber die Wände hochgetürmt, die zusammengekehrten Reste des Schnees der vergangenen Tage. Ein Hoch auf die schwäbische Kehrwoche.

Nach nur wenigen Minuten spürte ich nicht einmal mehr den kalten Wind im Gesicht. Kaum lief ich am Neckar entlang, begegnete mir der erste Läufer. Die Einsamkeit eines Langstreckenläufers? Mitnichten. Die Läufergemeinde wächst und läuft Tag und Nacht. Bei minus 10 Grad und böigem Wind begegneten mir noch acht weitere Läuferinnen und Läufer. Auf dem Rückweg hielt es mich nicht mehr auf meinen üblichen Strecken. Ich verlängerte meine Laufzeit, lief Umwege und unsinnige Schleifen durch Gassen und über Plätze der Stadt, die einem am Tage als Läufer verwehrt sind. Es herrschte eine angenehme Stille in der Stadt, nur meine Schritte hallten in den engen Gassen der Altstadt. Nach einer Stunde schlug ich einen letzten Bogen durch die schneebedeckte Platanenallee.

Der viele Schnee reflektierte das wenige Licht so stark, dass ich den Eindruck hatte, die letzten Meter unter Flutlicht nach Hause zu laufen. Bei jedem Schritt knirschte die platt gewalzte weiße Pracht.

Ideal zum Skaten, dachte ich. Endlich auch bei uns super Wintersportbedingungen. Eine Langlaufloipe hier auf der Tübinger Platanenallee – das wäre doch die Attraktion. Im Hintergrund die Kulisse der Altstadt, vorbei am ehrwürdigen Hölderlinturm – und alles auf einer kleinen Insel, umspült von Neckarwellen. Das ganz sogar unter Flutlichtbedingungen.

Am nächsten Morgen kaufte ich mir beim Sportfachhändler neue Skating-Skis. Ein echtes Schnäppchen. Im Geiste sah ich mich wochenlang durch die Platanenallee gleiten.

Am nächsten Tag war der Schnee weg, und heute bleibt mir nur der Ratschlag an alle Läuferinnen und Läufer: Genießen Sie den Frühling und ihren ersten Lauf des Jahres in kurzer Hose. Und vergessen Sie nicht, bei der anhaltenden Hitze ausreichend zu trinken.

Fragen zu Hölderlin? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Mausshardt über KLATSCH