„An die Luftangriffe gewöhnt“

Der Krieg hat für die Bewohner Bagdads auch gute Seiten: Die Nachbarn helfen einander

Am achten Tag des Krieges hat unser Korrespondent Karim El-Gawhary wieder mit seinem Freund und dessen Familie in Bagdad telefoniert. Die Mittelschichtfamilie lebt in einem kleinen Einfamilienhaus, unweit des Stadtzentrums von Bagdad. Der fünfzigjährige Vater publiziert Artikel über kulturelle Themen. Seine Frau arbeitet als Sekretärin. Die beiden acht- und zehnjährigen Töchter gehen normalerweise zur Schule.

„Wir sind alle okay, obwohl gerade ein Luftangriff läuft“, erzählt die Familienmutter gelassen. „Wir haben uns an die Luftangriffe gewöhnt. Manchmal gibt es Luftalarm, manchmal nicht. Wir wissen schon gar nicht mehr, ob der Angriff gerade anfängt oder aufhört, wenn die Sirenen losgehen. Die Kinder spielen gerade draußen bei den Nachbarn. Ein Luftalarm hält sie davon nicht mehr ab. Übrigens ist die ganze Nachbarschaft zusammengerückt. Ich habe seit dem Krieg meine Straße nicht verlassen, aber wir besuchen ständig unsere Nachbarn und sie besuchen uns. Wenn jemand aus der Straße weiter wegfährt, zum Einkaufen, kommt er vorbei und fragt, ob wir irgendetwas brauchen. Nicht alle haben ein Telefon. Einige kommen zu uns, um jemanden anzurufen, wie etwa ein Nachbar, der regelmäßig seine Familie im schwer umkämpften Nassirija im Süden anruft. Mit unseren unmittelbaren Nachbarn wechseln wir uns beim Abendessenkochen ab. Diese Art von Nachbarschaft ist die gute Seite des Krieges.

Gestern habe ich mit der Schuldirektorin meiner Tochter telefoniert, die nach Basra zu ihrer Familie gefahren ist. Ich wollte rauskriegen, was wirklich dort los ist, nachdem wir über die ausländischen Radiostationen gehört haben, dass es dort einen Aufstand gibt. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ich Angst hatte, dass es tatsächlich einen schiitischen Aufstand gibt. Wir haben als sunnitische Familie natürlich Angst davor. Die Schuldirektorin in Basra hat erzählt, es habe lediglich an einer Stelle Streit gegeben, weil die Leute von der Regierung ein paar Menschen davon abgehalten haben, die Stadt zu verlassen. Das mit den Nachrichten ist schwierig. Jeder lügt und wir haben keine Ahnung, was wirklich los ist.“

Der Familienvater war zu dieser Zeit gerade in der Stadt unterwegs. Bei einem späteren Anruf nimmt er den Hörer ab. „Als das staatliche irakische Satellitenfernsehen und Schabab, der Sender von Saddam Husseins Sohn Udai, ausfiel, weil sie von den Amerikanern bombardiert worden sind, hat sich herumgesprochen, dass es einen neuen, sehr populären iranischen Sender in arabischer Sprache namens Kanal al-Alam – Weltkanal gibt, und dass man ihn mit einer besseren Antenne empfangen kann. Wir haben uns eine besorgt. Das Programm läuft 24 Stunden unter dem Logo „Der Hegemonialkrieg“. Es ist kritisch gegenüber unserer Regierung, aber auch gegenüber den Amerikanern. Das ist alles in Beirut produziert. Dort diskutieren arabische Fachleute offen über den Verlauf und die Folgen des Krieges. Es gibt Talkshows, das ist neu für uns, und einen Korresponenten in Bagdad.“

Dann kommt die zehnjährige Tochter ans Telefon. „Ich habe heute den ganzen Tag gemalt und gezeichnet. Meine Mutter hat eine Barbiepuppe gezeichnet und ich musste sie ausmalen. Außerdem habe ich mit meiner Schwester Karten gespielt und Comics gelesen. Es ist alles ein bisschen langweilig. Ich kann ja höchstens einmal zu den Nachbarn zum Spielen. Aber toll ist, dass mein Vater drei neue Wellensittiche gekauft hat. Ein Vogel von dem bisherigen Pärchen war während eines Luftangriffs vor Schreck tot von der Stange gefallen. Jetzt kreischen vier Wellensittiche im Käfig in der Küche, zwei Grüne und zwei Gelbe.“