Obdachlose sollen nicht mehr zahlen

Ärzte, Städte und SPD-Experten wollen verarmte Patienten von der Praxisgebühr befreien. In der Gesundheitsreform sind solche Ausnahmen überhaupt nicht vorgesehen. Doch der gesetzlich vorgeschriebene Papierkrieg überfordert die Betroffenen

AUS BERLIN ULRIKE WINKELMANN

Zunächst ist kaum noch einer gekommen. „Inzwischen hat sich das aber wieder ausgeglichen“, sagt Barbara Peters-Steinwachs, Ärztin in der Münchner „Praxis für Wohnungslose“. Zu Beginn des Jahres hätten sich ihre Patienten, vor allem Obdachlose, nicht mehr zu ihr getraut. Sie hatten Angst vor den zehn Euro Praxisgebühr, die seit der Gesundheitsreform verlangt werden.

Mittlerweile jedoch hat Peters-Steinwachs von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Bayern Post bekommen. Jetzt braucht sie ihren Patienten keine Gebühr mehr abzunehmen. Seitdem die Obdachlosen gemerkt haben, dass sie kostenlos behandelt werden, kommen sie auch wieder. In dem Arztmobil, mit dem Peters-Steinwachs auch noch unterwegs ist, hat sie die Gebühren noch nie eingetrieben. Das lasse die niedrigschwellige Arbeit „überhaupt nicht zu“. Wer dann dafür zahlt? „Ungeklärt.“

In der Tat. In der ganzen Republik werden derzeit Menschen, die die Praxisgebühr nicht zahlen können, zwar ärztlich behandelt. Doch Ärzteverbände, Kommunen und Krankenkassen haben bislang keine tragfähige Lösungen entwickelt, wie einerseits verarmten Patienten geholfen und andererseits der Gesundheitsreform entsprochen werden kann. Das Gesetz verlangt, dass jeder bis zu zwei Prozent seines Bruttoeinkommens an Praxisgebühr und Medikamenten-Zuzahlungen zahlt.

Wenn nun die KV Bayern im Sinne der Obdachlosen-Ärztin Peters-Steinwachs Obdachlosen keine Praxisgebühr abnehmen will, fordert sie nichts anderes, als das Gesetz zu ignorieren. „Eine buchstabengetreue Auslegung der gesetzlichen Regelungen“, erklärt der Vize-Chef der KV Bayern, Wolfgang Hoppenthaller, würde die Arbeit der Obdachlose-Ärzte „unmöglich machen“. Entweder müssten die Kommunen als Sozialhilfeträger zahlen, oder die Krankenkassen verzichteten auf die Gebühr. Von einigen bayerischen Kassen wurde hierzu bereits Zustimmung signalisiert.

Aber eine Regelung dazu gibt es bislang nirgends – lediglich Verhandlungs-Wildwuchs. Das Bundesgesundheitsministerium schaut zu. Ohnehin hat Ministerin Ulla Schmidt (SPD) selbst die zehn Euro nie gewollt. Ihr Vorschlag in den Reformverhandlungen war, Sozialhilfeempfängern einen Euro für alle Leistungen abzunehmen. Doch Exgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) beharrte darauf, es dürfe keine Ausnahmen geben. Früher waren Sozialhilfeempfänger grundsätzlich von Zuzahlungen befreit.

Die Kommunen geben sich nun trotzig. Erstens habe man „das Gesetz ja nicht gemacht“. Zweitens aber gebe es immer noch die Möglichkeit, „ein Darlehen beim Sozialamt zu bekommen“, sagt ein Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebunds. Wer also Geld für die Praxisgebühr braucht, könne es sich beim Sozialamt abholen. Das Amt verrechnet die zehn Euro dann mit der nächsten Sozialhilfe. Wie wahrscheinlich es ist, dass jemand mit den zehn Euro dann wirklich zum Arzt geht – dazu äußert sich der Kommunensprecher nicht.

Der Deutsche Städtetag, Zusammenschluss der Großstädte, gibt sich radikaler. „Man wird versuchen, Härtefallregelungen einzuführen, die dem Zustand vor der Gesundheitsreform entsprechen“, sagt eine Sprecherin. Der SPD-Gesundheitsexperte Klaus Kirschner „begrüßt“ die Initiative des Städtetags: „Mindestens für Obdachlose muss es praktikable Lösungen geben“, sagt er. Man müsse über „Regelungen unterhalb der Gesetzesebene“ nachdenken, da das Reformgesetz auf keinen Fall umgeschrieben werden könne.

Auch Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe verlangt Härtefallregelungen zumindest für Obdachlose. Allein den Papierkram, der zur Ausstellung einer Befreiung von Zuzahlungen und Praxisgebühr notwendig ist, überfordere die Betroffenen. Ohne Härtefallregelung müsse man befürchten, „dass viele, die eine Befreiung am dringendsten brauchen, gar nicht in ihren Genuss kommen“.