Topmodel aus dem Waisenhaus

Vom Rand der Gesellschaft in die Bestsellerlisten: Mit Molly Moon soll nach Harry Potter nun ein neuer Star den Kinderbuchmarkt erobern

Der Harry-Potter-Boom ist noch nicht ganz vorüber, da kündigt sich schon eine neue weltweit erfolgreiche Kinderbuchfigur an. Die Rede ist von „Molly Moon“, einem zehnjährigen Waisenhausmädchen, das sich mittels Hypnose vom hässlichen, lilabeinigen Außenseiterkind zum selbstbewussten, wundersam erfolgreichen Fräulein im Pelzmäntelchen emporarbeitet. Ihrer Erfinderin Georgia Byng ist es innerhalb eines Jahres gelungen, Verlage in 25 Ländern zu überzeugen. Darüber hinaus wurden die Filmrechte an den Produzenten der Harry-Potter-Filme David Heyman verkauft. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis überall überlebensgroße Pappe-Mollys in den Buchhandlungen lächeln. Byngs deutscher Verlag hat vorgesorgt und von Kat Menschik bunte, sehr plakative Figuren entwerfen lassen, die zum Teil sogar ansprechender wirken als ihre literarischen Vorlagen.

Die Frage liegt nahe, was „Molly Moon“ eigentlich auszeichnet? Laut Verlagswerbung besticht die Heldin Molly Moon durch ihre Pippi-Langstrumpf-hafte, freche, witzige und mutige Art. Doch Molly ist weder witzig noch frech und mutig schon gar nicht, sondern verträumt und unkommunikativ. „Schlaftablette“ und „Sumpfauge“ sind die Schimpfwörter, die ihr die anderen Waisenhauskinder geben.

Wo Pippi aus schlechten Ausgangsbedingungen das Beste macht, hortet Molly ihren Groll gegen die bevorteilte Welt und sinnt auf Rache. Erst als ein mysteriöses Hypnosebuch Molly die Möglichkeit gibt, andere zu manipulieren, versucht sie, ihre Lage zu verändern, und dann kostet sie ihren Triumph auffallend lange aus. Zuerst setzt sie ihre gehasste Heimleiterin so unter Trance, dass sie fortan mit einem BH auf dem Kopf herumlaufen muss. Dann fliegt sie nach New York und mogelt sich als Star sogar auf den Broadway und ins Fernsehen. Erst als sie von einem Verbrecher überrumpelt wird, der ihre Fähigkeiten für sich ausschlachten will, überdenkt Molly Moon ihre bisherige Taten und schwört, die Hypnose nur noch in ganz seltenen Fällen zu gebrauchen.

Das klingt ein wenig halbherzig: Denn wer ist Molly Moon schon ohne ihre Hypnosefähigkeit? Pippi Langstrumpf dagegen könnte gut auf ihre übermenschliche Stärke verzichten, sie würde trotzdem noch Diebe zum Schottischtanzen einladen oder bei ihren Nachbarn die ganze Torte aufessen.

Nach „Harry Potter“ scheint sich mit „Molly Moon“ in der Kinderbuchliteratur allmählich ein neues Heldenbild zu etablieren. Wie Molly Moon ist auch Harry Potter anfangs ein aus der Gesellschaft ausgegrenzter Waise. Und wie Molly wird es Harry möglich, durch Magie aus dieser Rolle auszubrechen und sie völlig zu verwandeln: Aus Ausgrenzung wird Auserwähltheit (auch Molly wird von einer Bibliothekarin ausgewählt, das Hypnosebuch zu besitzen) und aus Einzelgängertum Starkult. Wesentliches Handlungsmotiv ist der Rachegedanke – bei Harry sublimiert als Kampf gegen das Böse dargestellt, bei Molly als Erfolgsgeschichte im Showgeschäft.

In einer Zeit der Superstars und Topmodels, in einer Zeit also, in der Extrovertiertheit als Tugend gilt, ist es sicher wünschenswert, dass sich auch Kinderbuchhelden verändern. Hauptsache, die Show geht weiter. ANNETTE KAUTT

Georgia Byng: „Molly Moon“. Aus dem Englischen von Wolfram Ströle. Carl Hanser Verlag. München 2003. 352 Seiten, 14,90 €