Ränder der Wahrnehmung

Ingeborg Lockemanns ephemere Piktogramme: Galerie für Landschaftskunst setzt mit der Schau „Beste Insellagen“ ihre gemeinsam mit dem Kunstverein projektierte „Hamburgkartierung“ fort

von CHRISTIAN T. SCHÖN

Wer Landkarten liest, wird viel entdecken, obwohl er nie vor Ort war, und auf Randerscheinungen aufmerksam, die ihm vorher entgingen. Seit einigen Jahren sammelt und produziert die Hamburger Galerie für Landschaftskunst für ihr „Museum ferner Gegenden“ Kartierungen, die sich dem Wegesrand mit minutiösem, subjektivem Blick nähern. Dazu gehört bereits eine Weltkarte der Vogelhäuser, eine Helligkeits-/Dunkelheitskartierung von Düsseldorf und eine „Handykarte“ für die Strecke Hamburg-Kiel. Für den November 2003 arbeitet die Galerie zusammen mit dem Kunstverein Hamburg an einer umfangreichen „Hamburgkartierung“.

Im Vorfeld sind in den Galerieräumen in der Admiralitätsstraße Kartographien von KünstlerInnen zu sehen, die den Stadtraum individuell fokussieren. Nach Bob Braine zeigt jetzt Ingeborg Lockemann ihre Arbeiten. Unter dem Titel Beste Insellagen hat die Berliner Künstlerin die Verkehrsinseln in Berlin-Mitte maßstabsgetreu auf eine Karte übertragen. „Die Gegend am Park“ zum Beispiel beschreibt das Leben im Görlitzer Park. Freizeitbeschäftigungen, Jogger, die um den Block laufen, Typen, die ihr an verschiedenen Orten immer wieder begegnen. Und obwohl weniger objektiviert, nähern sich Lockemanns Pläne dem Leben authentischer als funktionale Stadtpläne. Verfallsdauer jedoch: ein Tag. Wo eine handelsübliche Karte mit 40 Symbolen auskommt, führt Lockemann Hunderte individuelle Piktogramme etwa für Kioske und Toilettenhäuschen.

Solch fokussierte Darstellungen können strukturelle Elemente im sozialen Raum oder in der kultivierten Landschaft sichtbar machen: durch Codes verschlüsselte, häufig nicht einsichtige „Repräsentationen im Raum“, wie sie der Soziologe und Philosoph Henri Lefèbvre nennt. So meint Lockemann in den Ornamenten der Häuserfassaden am Alexanderplatz eine vertikale Ausrichtung aus einer Zeit zu erkennen, in der sich die DDR-Bürger nicht mehr ins Ausland bewegen durften.

Mit ihren vielen amüsanten Details erweisen sich Lockemanns Arbeiten als Schatzkarten für Neugierige, die die Welt mit anderen Augen sehen wollen – analog dem Anliegen der Galerie für Landschaftskunst, die durch Zufall in Kontakt mit der 1962 geborenen Künstlerin kam. Große Neugier weckte die Galerie bereits im Sommer 2002 mit der Biologischen Forschungsstation Alster, einer zum Labor-Museum umgebauten Schute, in dem etablierte Wissenschaftskategorien neu diskutiert wurden.

Die klassische Landkarte hat ihren Ursprung in der antiken Segelfahrerei und beschreibt in strenger Formsprache genormte Wegstrecken: Segelrouten entlang der Küste, den Fernverkehr auf dem Autobahnnetz, Aussichtspunkte und Sehenswürdigkeiten für Wanderer.

Mit der „Hamburgkartierung“ geht es dem Künstler Till Krause, der das Projekt mit fast zwanzig KünstlerInnen initiierte, und das er jetzt mit dem Kunstverein Hamburg realisiert, um eine davon abweichende „Neubeschreibung der Stadt“. Gerade die große Durchgeformtheit mache Hamburg zum „exemplarischen Untersuchungsobjekt“ und sei „Anstachelung zu Umformulierungen“. Die Zugänglichkeit von Terrains, Kneipenkonzentration in den Stadtteilen, das touristische Spazierengehen und die Wasserläufe der Stadt werden Themen der Ausstellung sein. Grund genug, Wegränder bereits jetzt näher in Augenschein zu nehmen!

Bis 10. Mai, Mi-Fr 15-18 Uhr, Sa 12-14 Uhr. Galerie für Landschaftskunst, Admiralitätsstraße 71. - „Hamburgkartierung“ wird ab April von Filmen, Vorträgen und Exkursionen begleitet.