Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Berufsschüler in Hildesheim foltern monatelang einen Klassenkameraden. Der Schulleiter will nicht darüber nachdenken, wie es sein kann, dass das Martyrium unentdeckt blieb

AUS HILDESHEIM BARBARA BOLLWAHN

Ein Dutzend Journalisten, Kameramänner und Fotografen haben Hans-Hermann Sölter im Visier. Und der hat zu seiner Verstärkung eine Psychologin und einen Kollegen mitgebracht. Ein ungewohnter Job für den Leiter der Werner-von-Siemens-Schule in Hildesheim. Nicht Fragen von Lehrern beantworten zu müssen – sondern der Presse.

Er macht sich gut. Nichts an ihm deutet auf Nervosität hin. Akkurat sein weißer Kinnbart, die grauen Haare, sein brauner Cordanzug. Nur seine roten Backen mögen eine gewisse Aufgeregtheit signalisieren: „Wir sind alle erschüttert. Wir haben nicht mit so einer Brutalität unter den Jugendlichen gerechnet.“

Sölter tritt die Flucht nach vorne an. Und das muss er auch, denn an seiner Berufsschule, die er seit 15 Jahren leitet, wurde ein 18-Jähriger monatelang von Mitschülern gequält und erniedrigt.

Vier Jugendliche sollen nach Angaben der Staatsanwaltschaft Hildesheim einen 18-jährigen Mitschüler, immer mittwochs und donnerstags, mit Eisenstangen geschlagen und gezwungen haben, Zigarettenkippen zu essen. Sie sollen ihn auch sexuell genötigt und gezwungen haben, sich vor einer Videokamera auszuziehen, um die Torturen aufzuzeichnen. Vier Monate lang. Der Tatort: der Materialraum der Berufsschule. Die Tatzeit: in den Pausen und während der Unterrichtszeit.

Seit Montag sitzen die vier mutmaßlicher Peiniger wegen gefährlicher Körperverletzung in Untersuchungshaft. Gegen sieben Mitschüler, die ihnen offenbar tatenlos zugesehen haben, wird ebenfalls ermittelt.

Der Direktor wirbt um Verständnis. Dass es nicht möglich ist, mit den sieben Schülern der Klasse 3b zu reden, die seit ihrer Vernehmung wieder am Unterricht teilnehmen. Dafür bietet er sich an – mit improvisierten Pressekonferenzen in der Schule: „Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen damit leben.“ Und Sölter mit dem Gefühl, seine Schule nun von einer anderen, unbehaglichen Seite kennen zu lernen.

Obendrein haben die Ermittler nicht nur Schüler im Visier. „Es wird auch das Verhalten der Lehrer unter die Lupe genommen“, sagte Oberstaatsanwalt Albrecht Stange. Der Grund: Die festgenommenen Schüler hatten ausgesagt, dass die Quälereien den Lehrern nicht hätten entgehen können. Ein Lehrer soll im Nachhinein davon erfahren und nichts unternommen haben. Doch Sölter will sich das nicht vorstellen, wie es sein kann, dass solch ein Martyrium unentdeckt blieb. Nur einen Satz sagt er dazu: „Ich habe die Lehrer befragt, ob sie nichts mitbekommen haben. Sie haben das von sich gewiesen.“

Er weicht auf Nebenschauplätze aus. Indem er von der Aufsichtspflicht spricht. „Das heißt nicht, dass jeder Schüler immer im Blickfeld ist.“ Indem er von russischen Aussiedlerschülern spricht. „Wir versuchen die Betreuung hinzukriegen“, sagt er. Und korrigiert sich sogleich: „Wir müssen lernen, die Betreuung hinzukriegen.“ Dann spricht er von „fehlender Zivilcourage“, ein Stichwort, das er gern gibt, denn in der Stadt findet just zu diesem Thema eine Ausstellung statt: „Die Sinne der Schüler müssen dafür geschärft werden, Vertrauen aufzubauen und sich zu offenbaren, wie hier geschehen.“

Das stimmt nicht ganz. Die Quälereien sind nur ans Tageslicht gekommen, weil Schulpsychologin Rosi Fellendorf in einer Parallelklasse der 3b Worte wie „Gewalt“ und „Erniedrigung“ aufgeschnappt hatte. Als sie den Schüler, aus dessen Mund sie diese Worte gehört hatte, ansprach, berichtete der bereitwillig von dem angeblich „offenen Geheimnis“ an der Schule. Kurz darauf sprach sie mit dem Opfer. „Zuerst versuchte er, alles zu verschweigen“, erzählt die zierliche Frau mit blonden Haaren, heller Fellweste und Perlenkette. „Nur langsam hat er sich geöffnet.“

Die mutmaßlichen Täter und das Opfer besuchen die gleiche Klasse, eine Jungenklasse, in der zwölf Schüler ein berufsvorbereitendes Jahr in Metall- und Elektrotechnik absolvieren. Sie haben, wie viele der über 1.700 Schüler, nur 180 von ihnen sind Mädchen, keinen Abschluss und deshalb schlechte Aussichten auf eine Lehrstelle.

Viele Schüler sind nicht deutscher Herkunft, stammen aus der Türkei, Russland oder Osteuropa. Die mutmaßlichen Täter, alle jünger als 18 Jahre, sind zwei Russlanddeutsche, ein Jugendlicher türkischer und einer deutscher Abstammung. Das Opfer – ein deutscher Jugendlicher. Körperlich war er seinen Peinigern unterlegen, bei den schulischen Leistungen aber überlegen.

Seit Anfang der Woche sitzen die vier Tatverdächtigen wegen schwerer Körperverletzung in Untersuchungshaft. Bernd Seemann von der Staatsanwaltschaft sagt zu deren Motiven: „Sie haben keine genannt. Sie haben mit dem Kopf geschüttelt und den Schulter gezuckt.“ Und: „Für solche Taten kann es keine Motive geben, nur Ausflüchte.“ Die Staatsanwaltschaft ermittelt zudem gegen die sieben Schüler, die den Qualen wohl tatenlos zugesehen haben. Das Opfer wird psychologisch behandelt.

Die Schulpsychologin weiß, dass die mutmaßlichen Täter vorher „nicht auffällig geworden“ seien. Und wenn, dann allenfalls positiv. Weil sie immer zum Unterricht erschienen sind. Nicht unbedingt normal an dieser Schule. Auf die Frage, ob sie mit dem Opfer in der Vergangenheit zu tun hatte, antwortet sie zögernd mit Ja. Worum es ging, will sie nicht offenbaren. Direktor Sölter pflichtet ihr bei, das tue nichts zur Sache.

Äußerst ungern erzählt Sölter auf Nachfrage von einem Vorfall aus dem Jahr 2002, an dem ebenfalls Schüler eines berufsvorbereitendes Jahres beteiligt waren. Worum es dabei ging, will er nicht sagen. Die Auseinandersetzung hätten außerhalb der Schule stattgefunden. Damals war Oberstaatsanwalt Stange, der jetzt die Ermittlungen leitet, an der Schule zu Besuch. Im Rahmen eines Präventionsprojekts. Gestern war er wieder da. Um mit den Schülern über die aktuellen Geschehnisse zu reden.

Nachdem Montag die gesamte Klasse 3b verhört worden war, gingen im virtuellen Gästebuch der Schule mehr als 2.200 E-Mails ein. Kurz darauf ließ Sölter das Forum schließen. Schade, denn nicht nur Volkes Stimme hatte sich zu Wort gemeldet, von „kranken Gehirnen“ gesprochen und eine fristlose Entlassung der „unfähigen“ Schulleitung gefordert, sondern auch Lehrer.

„Ich bin tief geschockt, da ich Lehrer in einer eben solchen Klasse in Schleswig-Holstein bin“, schrieb einer und appellierte an die Schüler. „Wir da vorne meinen es gut mit euch, wir wollen euch auf dem Arbeitsmarkt unterbringen und reißen uns teilweise dafür den Arsch auf.“ Seine Schüler beschreibt er so: „Scheiß auf Schule, Scheißlehrer, Scheiß auf Ausbildung! Hauptsache Fun, fun, fun. Handy aufn Tisch, die neuesten Videogames schwarz gebrannt ausgetauscht, Bild dazu, und dann lass den Typen da vorne doch reden.“ Eine Kollegin aus Duisburg flehte: „Ich kann nur alle Schüler bitten: Redet mit uns Lehrern. Wir kriegen nicht immer alles mit, aber es ist unser Job, euch in dieser Situation zu helfen.“

Nach anderthalb Stunden verabschiedet sich der Schuldirektor – mit einer Hoffnung und einem Anliegen. „Ich hoffe, dass Sie Hildesheim auch von seiner guten Seite kennen gelernt haben und bitte Sie um einen fairen Bericht.“

Seit der Festnahme der Tatverdächtigen mühen sich Fachleute um Ursachenergründung. Der Vorsitzende des Berufsschullehrer-Verbands Niedersachsen, Heinz Ameskamp, erklärte, es sei nicht ausgeschlossen, dass Lehrern Auseinandersetzungen unter Schülern verborgen bleiben. Nach Ansicht Werner Greves vom Institut für Psychologie der Universität Hildesheim ist ein Grund unterlassener Hilfeleistung neben der Angst häufig ein „schwindendes Verantwortungsgefühl in einer Gruppe“. Der Psychologe hält es für unklug, den untätigen Schülern Vorwürfe zu machen. Sinnvoller sei, schon in der Grundschule das Verhalten in bestimmten Situationen zu trainieren.

Genau das macht Peter Schöps. Er ist Geschäftsführer des Hildesheimer Präventionsrats, der 1999 einen Preis für Zivilcourage ins Leben rief. Seit vier Jahren führt der Präventionsrat in Schulen Mediationskurse zur Konfliktlösung durch – mit steigender Nachfrage. Allein voriges Jahr haben sich dreißig Schulen angemeldet.

Schöps sieht auch bei Pädagogen Handlungsbedarf. Gewaltprävention müsse Teil der Lehrerausbildung werden. „Dann könnte jeder Lehrer damit umgehen und wäre nicht unbedarft.“